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Nacht über der Menschheit

Nacht über der Menschheit

Titel: Nacht über der Menschheit
Autoren: Robert Silverberg
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Gewicht der Erinnerung ihn erdrückte, wurde er ohnmächtig.
     
    Das Bett war warm, die Laken sauber, frisch und weich. Langsam erwachte Niles, konnte sich für Augenblicke nicht orientieren, dann aber lieferte sein untrügliches Gedächtnis die Daten über seinen Zusammenbruch im Schnee, und ihm wurde klar, daß er sich in einem Krankenhaus befand.
    Er versuchte, die Augen zu öffnen; eines war zugeschwollen, aber die Lider des zweiten gingen auseinander. Er lag in einem kleinen Krankenzimmer – kein glitzernder städtischer Krankensaal, sondern eine kleine Bezirksklinik mit anheimelnden Spitzenvorhängen an den Fenstern, durch die das Licht der Nachmittagssonne hereinfiel.
    Man hatte ihn also gefunden und in ein Krankenhaus gebracht. Das war gut – leicht hätte er in dem Schnee sterben können. Jemand war über ihn gestolpert und hatte ihn hierher gebracht. Das war etwas Neues, daß jemand sich die Mühe machte, ihm zu helfen. Die Behandlung, die ihm gestern abend – war es gestern abend gewesen? – in der Bar widerfahren war, war schon typischer für die Art, wie die Welt mit ihm umging. In den neunundzwanzig Jahren seines Lebens war es ihm nicht gelungen, sich eine ausreichende Tarnung zuzulegen, und jeden Tag mußte er unter den Konsequenzen leiden.
    Er erinnerte sich nur schwer daran – er, der sich sonst an alles erinnerte –, daß die anderen Menschen nicht so wie er waren und ihn für das, was er war, haßten.
    Vorsichtig tastete er seine Seite ab. Nirgends schien eine Rippe gebrochen zu sein – nur Quetschungen. Einen Tag oder so Ruhe, und sie würden ihn wahrscheinlich entlassen.
    Eine strahlende Stimme sagte: »Oh, Sie sind wach, Mr. Niles. Fühlen Sie sich jetzt besser? Ich brühe Ihnen etwas Tee.«
    Niles sah auf und verspürte plötzlich einen stechenden Schmerz. Sie war Krankenschwester, zweiundzwanzig, vielleicht dreiundzwanzig, wohl neu in diesem Beruf, mit vollen, fließenden blonden Haaren und großen, hellen blauen Augen. Sie lächelte, und es schien Niles, als sei das nicht nur ein rein berufliches Lächeln. »Ich bin Miß Carroll, Ihre Tagschwester. Alles in Ordnung?«
    »Ja«, sagte Niles zögernd. »Wo bin ich?«
    »Im Zentral-Bezirkskrankenhaus. Sie wurden gestern abend hergebracht – offensichtlich zusammengeschlagen und liegengelassen auf der Landstraße 32. Sie hatten Glück, daß Mark McKenzie seinen Hund ausführte.« Sie sah ihn ernst an. »Sie erinnern sich an gestern abend, nicht wahr? Ich meine ... der Schock, die Betäubung ...«
    Niles kicherte. »Das wäre die letzte Krankheit in der Welt, vor der ich Angst hätte!« sagte er. »Ich bin Thomas Richard Niles, und ich erinnere mich genau an das, was passiert ist. Wie schwer hat es mich erwischt?«
    »Ein paar blaue Flecke, ein paar leichte Erfrierungen«, zählte die Frau auf. »Sie werden's überleben. Dr. Hammond wird Sie später genau untersuchen, wenn Sie gegessen haben. Jetzt bringe ich Ihnen etwas Tee.«
    Niles sah der schlanken Gestalt nach, bis sie verschwand.
    Ein attraktives Mädchen, dachte er, mit wachem Blick, flink ... lebendig.
    Das alte Klischee: Patient verliebt sich in seine Krankenschwester. Aber sie ist nicht für mich, fürchte ich.
    Plötzlich ging die Tür auf, und die Schwester kam erneut herein, vor sich ein kleines Emaille-Tablett. »Das hätten Sie nicht erwartet! Ich habe eine Überraschung für Sie, Mr. Niles. Einen Besucher. Ihre Mutter.«
    »Meine Mut ...«
    »Sie hat in der Bezirkszeitung eine kurze Meldung über Sie gelesen. Sie wartet draußen und hat mir erzählt, daß sie Sie seit siebzehn Jahre nicht gesehen hat. Soll ich sie jetzt hereinschicken?«
    »Ich denke, ja«, sagte Niles mit trockener, dünner Stimme.
    Zum zweiten Mal verschwand die Schwester. Mein Gott, dachte Niles. Wenn ich gewußt hätte, daß ich so nah an meinem Zuhause bin ... ich hätte überhaupt nicht nach Ohio kommen sollen.
    Der letzte Mensch, den er jetzt sehen wollte, war seine Mutter. Unter seiner Decke begann er zu zittern. Die älteste und schrecklichste seiner Erinnerungen kam aus einer dunklen Ecke seines Gehirns hervor, wo er gehofft hatte, sie für immer verstaut zu haben. Der plötzliche Übergang von Wärme in Kälte, von der Dunkelheit ins Licht, der schmerzhafte Schlag auf seinen Hintern, der stechende Schmerz, zu wissen, daß seine Geborgenheit vorbei war, daß er von jetzt an leben würde, unter jämmerlichen ...
    Die Erinnerung an seinen quälenden Geburts-Schrei hallte durch seinen Kopf. Er konnte
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