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Bilder von dir: Roman (German Edition)

Bilder von dir: Roman (German Edition)

Titel: Bilder von dir: Roman (German Edition)
Autoren: Kate Racculia
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Sechzehn Jahre davor
     
    Amy sah sich die Postkarte an: die Szene einer Strandpromenade. Menschenmassen im Sonnenschein. Glitzernd blauer Ozean zur Rechten, fröhliche Markisen vor den Geschäften. Sie schnupperte. Der Mann neben ihr im Bus stank nach Thunfisch und Zigarettenrauch.
    So muss es sich anfühlen, wenn man stirbt , überlegte sie.
    Alles an ihr war wund, wund und zu erschöpft, um noch Angst zu haben. Genau so, vermutete sie, musste es sich anfühlen, wenn man starb: Man gab alles auf, was vorher war, trennte es einfach ab. Riss es heraus. Sie war nicht religiös. Ihre Eltern waren gestorben, ehe sie noch Gelegenheit hatten, bedeutende Weisheiten über das Wesen unsterblicher Seelen weiterzugeben, und ihr Großvater sagte ihr gleich, als sie zu ihm zog, er sei allergisch auf die Kirche. Aber sie hatte die Vermutung, dass es da noch etwas jenseits ihres Wissens gab. Wahrscheinlich eine Art Übergangsphase, in der man Gelegenheit hatte, sich vom alten Selbst und vom alten Leben zu verabschieden, und das hier war ihres, in diesem Greyhoundbus, wo sie ihre in Sandalen steckenden Füße auf ihrem Rucksack abgelegt hatte und nichts weiter als eine Postkarte in Händen hielt, um darauf ihr Ableben kenntlich zu machen. Nicht, dass sie je vorgehabt hätte, sie abzuschicken. Niemals war das ihre Absicht gewesen, nicht einmal, als sie die Karte kaufte.
    Sie hatte auf Mona gewartet, bis deren Schicht in der Pizzeria zu Ende war – und mit Ende der Schicht meinte Amy, dass Mona sich von der Knutscherei mit ihrem Freund löste – und die Zeit in einem der Ramschläden an der Promenade totgeschlagen. Die Promenade war voller Ramsch – überall nichts als Scheiße. Schlüsselanhänger und T-Shirts und Schneekugeln (wie armselig war das denn, Schneekugeln am Strand?) und blöde kleine Skulpturen aus Muscheln. Wenn einer kleine Objekte zu schätzen wusste, dann Amy, aber das hier war einfach zu viel. Sie musste dabei an die vielen Menschen denken, die es tatsächlich auf der Welt gab, und wann immer sie darüber nachdachte, schnürte es ihr die Luft ab, und sie fühlte sich wahnsinnig einsam, was bei genauer Betrachtung ein klassischer Fall von Ironie war: dass die Wahrnehmung, ein Mensch unter Milliarden von Menschen zu sein, Amy Henderson das Gefühl gab, nur noch einsam zu sein.
    Sie kaufte die Postkarte, weil der Typ hinter dem Tresen sie komisch ansah und sie ihm beweisen wollte, nicht einfach nur rumzuhängen, auch wenn sie das tat, wo sie doch verflixt noch mal eine Erwachsene war. Sie hatte Geld.
    Sie strich die Karte über ihrem Oberschenkel glatt: OCEAN CITY VERMISST DICH! stand in hellroten Lettern über den Himmel geschrieben. Wohl kaum. Sie kaute auf ihrem Stift herum, drehte die Karte um und schrieb auf die leere Seite: Es tut mir leid, Mona .
    Etwas anderes fiel ihr nicht ein, also füllte sie die für die Adresse vorgesehenen Zeilen aus. Sie würde sie dennoch nicht abschicken, aber es tat gut, die Fakten festzuhalten: Desdemona Jones, Darby-Jones House, Ruby Falls, New York .
    Vielleicht sollte sie ihrer Entschuldigung ein wenig mehr Nachdruck verleihen. Ich hätte es dir sagen sollen , schrieb sie. Was war es, was sie Mona sagen wollte? Was konnte man auf eine Postkarte schreiben – wohl wissend, dass irgendein neugieriger Postbeamter sie vermutlich las, und man ohnehin kaum genug Platz hatte, um irgendetwas Wichtiges zu sagen?
    Du kanntest mich besser als alle – ich denke, du kanntest mich besser als ich mich selbst .
    Das würde Mona glücklich machen. Mehr als alles in der Welt wünschte Mona sich, jemandes beste Freundin zu sein. Es war ein wenig armselig, machte Amy aber dann manchmal doch sehr viel glücklicher, als sie sich das eingestehen wollte.
    Mona würde sich Sorgen machen, also schrieb sie daneben: Keine Sorge. Ich schwöre dir, ich bin tot glücklicher , was ein bisschen gemein war, weil es Mona mit der Frage zurückließ, ob Amy sich von einer Klippe gestürzt oder auf Bahngleise geworfen oder eine ganze Packung Tabletten geschluckt hatte und dann eingeschlafen war. Aber Mona sollte es besser wissen. Wenn Amy nichts dergleichen getan hatte, solange sie noch in Ruby Falls festsaßen, dann würde sie es todsicher nicht tun, nachdem sie dem endlich entkommen war.
    Es wurde langsam spät, und Amys Müdigkeit reichte dann doch nicht aus, um nicht zu merken, wie hungrig sie war. Bei der letzten Busstation hatte sie sich ein paar Tüten Salzbrezeln gekauft, die sie jetzt fröhlich
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