Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nacht über der Menschheit

Nacht über der Menschheit

Titel: Nacht über der Menschheit
Autoren: Robert Silverberg
Vom Netzwerk:
Datenfluß und löschte die aufkommenden Erinnerungen. Er hatte Marshall vor sechs Monaten auf der Party eines gemeinsamen Freundes kennengelernt – eines früheren gemeinsamen Freundes; Niles hatte Schwierigkeiten, Freunde länger zu behalten. Er hatte mit dem Schauspieler vielleicht zehn Minuten gesprochen, und das hatte sein Gehirn mit zusätzlichem Ballast beladen.
    Es war Zeit, weiterzuziehen, beschloß Niles. Seit zehn Monaten war er in Los Angeles. Die Last der sich auftürmenden Erinnerungen wurde zu schwer – er grüßte bereits zu viele Leute, die ihn längst vergessen hatten ( verflucht sei mein Durchschnitts-Körper, knapp einen Meter achtzig, 163 Pfund, bräunliches Haar, bräunliche Augen, keine unschönen hervorstechenden äußeren Merkmale, keine erkennbaren Narben, abgesehen von den inneren, dachte er). Er erwog, nach San Francisco zurückzugehen, entschied sich aber dagegen. Vor einem Jahr erst war er dort gewesen, vor zwei Jahren in Pasadena. Ihm wurde klar, daß die Zeit gekommen war, wieder einen Sprung nach Osten zu machen.
    Thomas Richard Niles ist kreuz und quer unterwegs durch den amerikanischen Kontinent. Er ist der Fliegende Holländer, der Ewige Jude, das menschliche Tonbandgerät. Er lächelte dem Zeitungsjungen zu, der ihm eine Ausgabe des Examiner am letzten 13. Mai verkauft hatte, bekam als Reaktion den bekannten, verständnislosen Blick und ging in Richtung auf die nächste Bushaltestelle davon.
     
    Am 11. Oktober 1929, in der kleinen Stadt Lowry Bridge in Ohio, hatte die lange Reise für Niles begonnen. Er war das dritte von drei Kindern, geboren von den offensichtlich ganz normalen Eltern Henry Niles (geb. 1896) und Mary Niles (geb. 1899). Seine älteren Geschwister, ein Bruder und eine Schwester, hatten keinerlei außergewöhnliche Begabungen gezeigt. Allerdings Tom.
    Es begann, als er alt genug war, Worte zu formen; eine Nachbarsfrau hatte von der Veranda ins Haus hineingeschaut, wo er spielte, und zu seiner Mutter gesagt: »Sieh, wie groß er geworden ist, Mary!«
    Noch nicht einmal ein Jahr alt, hatte er in buchstäblich demselben Tonfall geantwortet: »Sieh, wie groß er geworden ist, Mary!« Das hatte eine Sensation hervorgerufen, obwohl er nur nachgeahmt hatte.
    Niles verbrachte die ersten zwölf Jahre in Lowry Bridge, Ohio. In späteren Jahren hatte er sich oft gefragt, wie er es dort so lange ausgehalten hatte.
    Mit vier Jahren ging er in die Schule, da es keinen Grund mehr gab, ihn davon abzuhalten; seine Klassenkameraden waren fünf und sechs Jahre alt, ihm weitaus überlegen in körperlicher Hinsicht, weitaus unterlegen aber in allem anderen. Er konnte lesen, er konnte sogar schon etwas schreiben, wenn auch seine kindlichen Muskeln durch das ungewohnte Halten des Federhalters schnell erlahmten. Und er konnte sich erinnern.
    Er erinnerte sich an alles. Niles speicherte den Zank seiner Eltern und wiederholte ihn aufs Wort genau für jeden, der es hören wollte, bis sein Vater ihn prügelte und drohte, ihn umzubringen, wenn er das noch einmal tun würde. Er erinnerte sich auch daran. Niemals vergaß er die Lügen, die seine Geschwister erzählten, und es war meist schmerzhaft, sie aufzudecken. Schließlich lernte er auch, das nicht zu tun. Er erinnerte sich an Dinge, die die Leute gesagt hatten und berichtigte sie, wenn sie später davon abwichen.
    Er erinnerte sich an alles.
    Jedes Buch, das er einmal gelesen hatte, blieb in seinem Gedächtnis haften. Wenn der Lehrer ihn etwas fragte, war Tommy Niles' dürrer Arm lange vor denen seiner Kameraden in der Luft, die die Frage meist noch gar nicht verdaut hatten. Nach kurzer Zeit machte der Lehrer ihm klar, daß er nicht jede Frage beantworten konnte, auch wenn er die Antwort als erster wußte – schließlich waren noch zwanzig weitere Schüler in der Klasse. Die Mitschüler machten ihm das auch sehr deutlich klar – nach der Schule.
    Spielend gewann er auch den Aufsage-Wettbewerb in der Sonntagsschule. Barry Harman hatte wochenlang gelernt, um den Baseball-Fausthandschuh zu gewinnen, den sein Vater ihm im Fall eines Sieges versprochen hatte – aber als Tommy Niles mit dem Aufsagen dran war, begann er mit Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde, fuhr fort mit Also ward vollendet Himmel und Erde mit ihrem ganzen Heer, kam bis zu Und die Schlange war listiger denn alle Tiere auf dem Felde, die Gott der Herr gemacht hatte, und wahrscheinlich hätte er noch Genesis und Exodus, bis hin zu Josua aufgesagt, wenn der verwirrte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher