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Myrddin

Myrddin

Titel: Myrddin
Autoren: Jonathan Saunders
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Tundra blitzten zwischen dem unlängst windgepeitschten Schneestaub, der sich in dieser sternenhellen Nacht im Windschatten der Krüppelzweige ausruhte. Über einen in Geröllschutt zu versinken drohenden Schlängelpfad gelangte man auf ein Felsplateau, zu Füßen der steil aufragenden Steinspitze, geschützt von großen Blöcken an der Nordseite. Aus der Höhe sah man in die Weite des Gestirnenhimmels, sah den Welthorizont, der sich mit der Erdkrümmung im Westen verlor, sah die Unendlichkeit des Nordmeeres, die Ferne allen Lichtes und die Größe des Universums – man sah die Gestalt jederzeit unter einer stumm sinkenden Mondsichel, die dem Sternenlicht Kraft verlieh.
    An dem äußeren Rand der Felsplatte stand Merlin in eine Rentierfelltunika mit Kapuze gehüllt und beobachtete die Sterne, dampfender Atem vor seinem Mund. Er selbst war nur eine Silhouette unter hundert anderen, ein Denkmal seines Alters, schattenlos wie die Nacht. Mit einer Hand griff er in die kalte Luft, den Arm zu den Sternen gestreckt, als wollte er sich an dem sinkenden Mond emporziehen. Neben ihm auf dem Felssockel, in einem aus Stein geschlagenen Wasserbassin, glitzerte zitternd das Licht des Großen Bären. Merlin wendete seinen Blick von der See und aus den Sternen in das Wasser. Mit der Handfläche strich er behutsam die knisternden Eiskristalle an den Beckenrand und schaute lange in das Schwarz. Das fahle Licht des Großen Bären huschte kaum erkennbar über sein wettergezeichnetes Gesicht und mit großer Enttäuschung wandte er sich ab, zog den Kragen der Tunika enger um den Hals und murmelte etwas Bitteres über die klirrende Kälte.
    Am Eingang seiner mit Decken geschützten Höhle, die sich in den hochragenden Felsen erstreckte, unter einem hölzernen Vorbau, den er mit Schilfen gegen Regen, Wind und Schnee gedeckt hatte, nur wenige Meter hinter dem Plateau lag ein stattlicher Hirsch. Seine Maulhaare waren durch den dampfenden Atem bereift. Sein Geweih wirkte selbst in der Nacht majestätisch und sein Blick ließ von Merlin nicht ab. Ohne jede Regung lag er, Merlin stets betrachtend, auf dem steinharten Felsboden vor der Höhlenschwelle – sein Geweih hoch über den Nacken gestellt. Sein Atem verriet Aufmerksamkeit.
    Merlin wollte ihm ausweichen und sich an ihm vorbeischlängeln, ohne etwas sagen zu müssen, so groß war seine Enttäuschung, doch der Hirsch sprach ihn mit tiefer, sanftmütiger Stimme an.
    „Ist es immer noch nicht soweit? Das Gesicht kam nicht über dich …“, meinte Hörn. Bedauern und Mitleid lagen in seiner Stimme.
    Merlin, der nicht aus seiner Kapuze sehen wollte, die er tief in das Gesicht gezogen hatte, brummte nur: „Nein …, ist noch nicht soweit …“, und mit sich selbst weitersprechend: „… heute noch nicht … und gestern nichts … und morgen … wer weiß schon! Kein Gesicht. Keine Zeichen. Nur Leere, grausame Kälte, beulige Hände … und mich grämende Finsternis.“
    „Merlin, übe Geduld und bleibe dir gerecht. Mit deinem Ärger zerfleischst du dich wieder.“
    „Ja, ja … Warten und quälen … Elendig, diese Welt und dieses Leben … und du liegst nur da, und beobachtest schweigend, als könntest du nicht … Ach, ist doch egal! Ich will jetzt rein, sonst erfriere ich noch“, murmelte er weiter, sein Gesicht bewußt vor Hörn, dem Hirsch, versteckend. „Er sagt: Geduld … ! und ich sage: Was für ein Elend! Was für eine Tortur. Man sollte mich in Ruhe lassen …!“
    Hörn sprang auf, sah ihn scharf an, holte tief Atem, und der plötzlich kleine Merlin blickte entschuldigend zu ihm auf.
    „Ist schon wieder gut, Hörn. Natürlich werde ich weiter warten. Die langen Nächte und das Hungern … Du weißt, wie sehr es an mir zehrt.“ Er strich sich die Kapuze vom Kopf und weißes, schulterlanges Haar fiel über seinen hohen Fellkragen. Auf einen langen, glatten, feinhaarigen, ebenso weißen Ziegenbart fiel das Mondlicht und Merlin schaute seinen Freund, den Hirsch, versöhnlich an. „Schon gut. Ich weiß, daß wir hier zusammen sind, und sicherlich macht es dir ebenso wenig Freude, die Zeit ziehen zu sehen. Geh und such dir etwas Gras. Rebbenesoy sollte noch gute, unverschneite Weidenflächen haben … Und mein Guter: du mußt in diesem Jahr nicht rüberschwimmen, so dick ist das Eis“, sagte Merlin, indem er Hörn liebevoll an den Hals schlug.
    Das Mondlicht fiel jetzt auf das grauweiße Haar seines Gesichtes. Merlin hatte tiefliegende, beschattete Augen, die trotz seines
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