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Myrddin

Myrddin

Titel: Myrddin
Autoren: Jonathan Saunders
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durch, schob sein gewaltiges Geweih unter den schwachen Körper Merlins, hob dann seinen Kopf und trug den Zauberer in seinem Gestänge hängend zu dem Bassin. Dort zerschlug er mit dem Huf das Eis und Merlin benetzte seinen Mund mit dem köstlichen Elixier. Dann trug Hörn ihn zum Eingang der Höhle und rollte ihn sorgsam aus seinem Geweih.
    Merlin robbte über die Schwelle. Die Lichtschale über dem Tisch war längst erloschen. Eisige Luft füllte die Höhle. Vor der Schwelle hatten sich Schneewehen gesammelt. Mit gelähmten Beinen kroch Merlin in den pechschwarzen Schlund seiner Höhle hinein.
    „Sanddorn …? Eigentlich sollte ich meine Höhle nach den Jahrhunderten besser kennen …“
    Es fielen ihm Gegenstände und Gefäße auf den Boden und zerschlugen. Scherben hörte der Hirsch in der Dunkelheit auf den Steinboden springen. Es war, als würde Merlin die Regale von den Wänden reißen. „… und wo nur habe ich die Schwefelhölzer? Oder wenigstens einen Silex …? Hörn, weißt du nicht, wo der Silex geblieben ist? Hörn …?“ rief er mit rauher Stimme aus der Höhle.
    Doch sein Hirsch stand auf dem Felsen, sog die klare Luft ein und kümmerte sich nicht um ihn. Er wollte Ruhe haben, neue Kraft gewinnen und den Seher für kurze Zeit vergessen. Den Launen, Anfällen, Umnachtungen und Freuden eines Freundes immerfort ausgeliefert zu sein, und dies seit Jahrhunderten, und dabei nur Dinge zu erfahren, die einen kaum betrafen noch bewegten, war Aufopferung genug. Er selbst mußte Energien sammeln und brauchte Kraft, um Merlin ein Freund zu sein.
    Damals, noch zu Zeiten Kaledoniens, in den guten Jahren mit Gwenddolau, war alles anders gewesen. Sie waren frei. Sie hatten ein Leben in sich und konnten den alten Glauben bewahren. Der große Druide hatte seine Aufgabe und seine Zuhörer. Sie vermochten die Menschen des alten Glaubens zu schützen. Sie waren wichtig für sie gewesen, hatten ihre Bedeutung und natürliche Anerkennung. Sie hatten Zugang zu den Unsterblichenlanden, den Frieden der Zauberhaine, gute Luft, duftende, laue Sommer und klares, liebliches Wasser. Die Welt war deutlicher. Sie war unmittelbarer gewesen.
    Danach kamen die schweren Zeiten, als die Christen die Andersglaubenden aufmischten, erschlugen, den Urglauben verachteten und verfemten, die Zeichen und Symbole übernahmen, ihnen andere Namen gaben und die Urvölker knechteten oder in die unwirklichsten Einöden jagten, wenn man ihrer nicht habhaft werden konnte.
    Das Zeitalter der Angst war über die Welt hereingebrochen, eine Zeit des Betruges, der raffinierten Macht, eine Ära der Dummheit und Menschenverachtung, der Armut und des Unwissens – und das lebendige Band zu der Urmutter Erde wurde zerschnitten. Die Epoche des Verrates der Menschheit war über sie hergefallen. Aus Wäldern wurden Flotten, aus Steinen wurde Palastkerker und aus Gebirgen Kathedralen.
    Hörn stand königlich mit gestrecktem Hals und wog sein Geweih zu beiden Seiten. Dann hörte er Merlin, der, ihn um Hilfe bittend, auf die Schwelle gekrochen war.
    „Hörn, meine Augen … Sie sehen noch nicht richtig. Sage mir: steht auf dieser Flasche Hippophae Rhamnoides ?“ Und er hielt ihm eine große Flasche mit einer lateinischen Aufschrift entgegen.
    Hörn bestätigte ihm die Aufschrift, woraufhin Merlin gierig den Flaschenstopfen entfernte und einen zähen, goldgelben Saft in großen Zügen trank. Hörn sah den mitleiderregenden Haufen Mensch, der den dickflüssigen Saft in sich hineingoß, und schaute dann wieder in die dichten Wolken. Er hatte einen anderen Merlin in Erinnerung.
    Allmählich kam der Zauberer zur Besinnung. Er fühlte das Leben in seine Beine zurückkehren – kribbelnd, schmerzend, prickelnd – und rieb sich seine Ober- und Unterschenkel heftig. Den Sanddornextrakt stellte er auf die Schwelle, setzte sich seufzend, in eine Decke gehüllt, die er aus der Höhle mitgebracht hatte, blickte zu Hörn, dann zu den Wolken und wieder zu Hörn. Beschämt fragte er den Hirsch, wie lange es diesmal gedauert habe.
    „Zwei Tage und zwei Nächte“, erwiderte Hörn, indem er sich zu Merlin legte und übermüdet in den Westen sah.
    „Ich habe dir viel Arbeit gemacht, was?“
    „Es war nicht ganz so schlimm, wie du annimmst. Nach der ersten Nacht hatte ich keine Angst mehr um dich. Aber in jener Nacht wolltest du dich immerzu von den Decken befreien, als würden sie dich beklemmen … und das bei dem Frost hier draußen auf dem Felsen. Da hatte ich Angst, du
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