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Myrddin

Myrddin

Titel: Myrddin
Autoren: Jonathan Saunders
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Mensch.“
    Er starrte in das unruhige Licht, stand auf, löschte alle Lichter an den Wänden, zog sich einen dicken Wollfilzmantel über, der neben dem Höhleneingang hing, und ging in die Nacht hinaus.
    Der Mond war untergegangen. Nur noch die Sterne funkelten diamantengleich. Wieder stellte sich Merlin auf seinen Aussichtspunkt neben dem Felsblock mit dem Bassin, blickte weltabwesend in den Westen, verharrte, drehte sich um und öffnete einen kleinen Verschlag an der rechten Seite des Höhleneinganges, der ihm als Vorratslager für gesammelte Früchte und Obst diente. So roch es nach Heidel- und Brombeeren, nach Quitten, Äpfeln und Mirabellen, nach Honig und getrocknetem Brot.
    Merlin verstand sich auf die Kunst des Lebens. Er nahm sich einen Apfel, den er selbst in der Dunkelheit zu finden vermochte, verschloß den Raum und ging wieder auf seine felsige Plattform, bevor er in das Wasserbecken sah. Die Oberfläche war bereits wieder zugefroren. Verärgert schlug er mit der Faust auf die dünne Eisfläche, die augenblicklich klirrend brach und deren Scherben auf den Felsen fallend zersplitterten. Wasser spritzte über den Bassinrand und vereiste sofort. Wütend schlug er mit der Hand in das Wasser, setzte sich dann auf den kalten Felsen, starrte wieder in den endlosen Raum, biß in seinen Apfel, schluckte ein Stück hinunter und biß wieder hinein. Tief unter sich sah er Hörn als winzigen Punkt über das harte Eis schreiten, um bald hinter einer Landzunge von Rebbenesoy in die Unbeschaffenheit des Dunkels zu tauchen. Die naheliegenden Inseln hoben sich wie Berge aus dem Nebel, kauerten wie schwarze Haufen in der Unendlichkeit.
    Merlin stand schwerfällig auf, biß ein letztes Mal in den Apfel und schaute wieder in das Wasser, das – der Kälte gehorchend – wieder zu vereisen begann. Er sah zu den Sternen hinauf und dachte an die Augenblicke der Ewigkeit, die er erlebt hatte, und dachte an Hörn, der ausgiebig äsen sollte. Er sah die Vega in leuchtend flimmerndem Licht, und die Milchstraße zog einen hellblauen Schleier über Cassiopeia und Capella. Eine eisige Bö erfaßte seine Haare und wehte über den Kragen seines Mantels. Erschrocken sah Merlin zu den Sternen hinauf. Nichts, dachte er und sagte: „Es ist unverändert. Capella im großen Nebel der Milchstraße … Nein …!“ rief er plötzlich mit Schrecken. „Nicht jetzt …!“
    Die Bö hatte ihren kalten Windhauch ausgespielt und es wurde wieder vollkommen still um ihn herum. Verunsichert schaute Merlin in alle Himmelsrichtungen und Capella begann tatsächlich durch einen Nebel zu leuchten. Dunst? Bei dieser Wetterlage …? Unmöglich! dachte Merlin und blickte neben sich in die Wasserschale. Die Oberfläche begann sich zu kräuseln. Er atmete tief ein, pumpte die scharfe, schneidende Luft in seine Lungen und rief mit der Gewalt seiner verbliebenen Stimme den Hirsch.
    Sein Ruf stob über die Hänge Nordkvaloys, wirbelte den Schnee vom Eis des gefrorenen Fjords und hallte unheimlich in den umliegenden Bergen wider.
    „Höööööörnnn …!“ schrie er noch einmal, als Capella für ihn am Himmel schon nicht mehr zu sehen war und der Boden unter seinen Füßen in Wellen zu beben begann. In Spiralen tanzten Schneefahnen um ihn herum und ein Wind hob sich zu einem stürmischen Totenreigen.
    Klamm und zitternd streckte Merlin in der Nacht beschwörend seine Arme von sich und sank dann erschöpft auf seine Knie. Ein tief donnernder Wolkennebel raste kometengleich über den Himmel auf ihn zu. Geräusche und Beben wie die einer riesigen Herde von Karibus, die sich aus dem Nichts auf ihn zu stürzen gedachten, überkamen ihn.
    Hörn hörte Merlins Hilferuf gespenstisch über das Eis schallen und sein erbärmliches Echo in den Bergen dröhnen. Er wußte, was geschehen würde, ließ augenblicklich von seinem Vorhaben ab und machte sich auf den Rückweg.
    Als er um die Landzunge der Bucht von Rebbenesoy kam, sah er bereits in der Ferne die blauschwarz blitzende Nebelwolke über Nordkvaloy und hörte die Stürme entfesselt toben. Er ging von Trab in Galopp über, doch das Eis war zu glatt und spiegelig gefroren und sein Weg war weit. Unter seinen Hufen sprühten die Eissplitter zur Seite. Die Kälte brannte in seinen Augen und Blut floß ihm aus den Nüstern. Adern platzten, doch das einzige, was er wußte, war, daß sein Platz an der Seite Merlins war, der ihn jetzt brauchen würde.
    Das Eis war stark genug. Hartborsten jaulten kreischend durch die Nacht.
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