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Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
Autoren: J.M. Coetzee
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Eins
    D er Mann am Tor zeigt auf ein niedriges, langgestrecktes Gebäude in einiger Entfernung. »Wenn ihr euch beeilt«, sagt er, »könnt ihr euch noch anmelden, bevor sie für heute schließen.«
    Sie beeilen sich.
Centro de Reubicación Novilla
steht auf dem Schild.
Reubicación
– was bedeutet das? Das Wort hat er nicht gelernt.
    Das Büro ist groß und leer. Auch heiß – noch heißer als draußen. Ganz hinten nimmt ein hölzerner Schalter die gesamte Raumbreite ein, unterteilt durch Milchglasscheiben. An der Wand steht eine Reihe niedriger Aktenschränke aus lackiertem Holz.
    Über einem der Abteile hängt ein Schild:
Recién Llegados
, die Wörter wurden mittels einer Schablone schwarz auf ein Papprechteck gemalt. Die Beamtin hinter dem Schalter, eine junge Frau, begrüßt ihn mit einem Lächeln.
    »Guten Tag«, sagt er. »Wir sind Neuankömmlinge.« Er spricht die Worte langsam aus, in dem Spanisch, das er sich mühevoll angeeignet hat. »Ich suche Arbeit, auch eine Unterkunft.« Er fasst den Jungen unter den Achseln und hebt ihn hoch, damit sie ihn richtig sehen kann. »Ich habe ein Kind dabei.«
    Die junge Frau streckt dem Jungen die Hand hin. »Hallo, junger Mann!«, sagt sie. »Ihr Enkel?«
    »Nicht mein Enkel, auch nicht mein Sohn, aber ich bin für ihn verantwortlich.«
    »Eine Unterkunft.« Sie schaut in ihre Unterlagen. »Wir haben hier im Zentrum ein freies Zimmer, das Sie nutzen können, während Sie sich nach etwas Besserem umsehen. Es wird nicht besonders komfortabel sein, aber vielleicht macht Ihnen das nichts aus. Was eine Arbeit angeht, lassen Sie uns das morgen früh erkunden – Sie sehen müde aus, sicher wollen Sie sich ausruhen. Sind Sie weit gereist?«
    »Wir sind die ganze Woche unterwegs gewesen. Wir kommen aus Belstar, aus dem Lager. Kennen Sie Belstar?«
    »Ja, ich kenne Belstar gut. Ich bin selbst über Belstar hergekommen. Haben Sie dort Spanisch gelernt?«
    »Sechs Wochen lang hatten wir jeden Tag Unterricht.«
    »Sechs Wochen? Sie haben Glück gehabt. Ich bin drei Monate lang in Belstar gewesen. Ich bin vor Langeweile fast gestorben. Nur der Spanischunterricht hat mich durchhalten lassen. Hatten Sie zufällig Señora Piñera als Lehrerin?«
    »Nein, wir hatten einen Lehrer.« Er zögert. »Darf ich auf etwas anderes zu sprechen kommen? Mein Junge« – er sieht das Kind an – »fühlt sich nicht wohl. Das kommt zum Teil daher, dass er verstört ist, verwirrt und verstört, und nicht richtig gegessen hat. Das Essen im Lager war für ihn ungewohnt, er mochte es nicht. Können wir hier irgendwo eine anständige Mahlzeit bekommen?«
    »Wie alt ist er denn?«
    »Fünf. Sein Alter wurde mit fünf angegeben.«
    »Und Sie sagen, er ist nicht Ihr Enkel.«
    »Nicht mein Enkel, auch nicht mein Sohn. Wir sind nicht verwandt. Hier« – er holt die zwei Ausweise aus seiner Tasche und reicht sie ihr.
    Sie kontrolliert die Ausweise. »Die sind in Belstar ausgestellt worden?«
    »Ja. Dort hat man uns auch unsere Namen gegeben, unsere spanischen Namen.«
    Sie beugt sich über den Schalter. »David – das ist ein netter Name«, sagt sie. »Gefällt dir dein Name, junger Mann?«
    Der Junge blickt sie ruhig an, antwortet jedoch nicht. Was sieht sie? Ein schmales, blasses Kind in einem bis zum Hals zugeknöpften Wollmantel, kurzen grauen Hosen, die bis über die Knie reichen, mit schwarzen Schnürstiefeln über Wollsocken und einer schräg aufgesetzten Tuchmütze.
    »Ist es dir in den Sachen nicht sehr heiß? Möchtest du den Mantel ausziehen?«
    Der Junge schüttelt den Kopf.
    Er mischt sich ein. »Die Sachen stammen aus Belstar. Er hat sie selbst ausgesucht aus dem, was zur Verfügung stand. Er hat sich sehr an sie gewöhnt.«
    »Ich verstehe. Ich habe gefragt, weil er mir für einen Tag wie den heutigen etwas zu warm angezogen schien. Zu Ihrer Information: Wir haben hier im Zentrum eine Kleiderkammer, der die Leute Sachen spenden, die ihren Kindern zu klein geworden sind. Sie ist an Wochentagen jeden Vormittag geöffnet. Dort können Sie sich gern etwas aussuchen. Sie haben dort eine größere Auswahl als in Belstar.«
    »Vielen Dank.«
    »Und dann können Sie sich auch, wenn Sie alle erforderlichen Formulare ausgefüllt haben, auf Ihren Ausweis Geld auszahlen lassen. Sie bekommen eine Umsiedlungsbeihilfe von vierhundert Reales. Der Junge ebenfalls. Für jeden vierhundert.«
    »Vielen Dank.«
    »Und nun möchte ich Ihnen Ihr Zimmer zeigen.« Sie beugt sich hinüber zur Frau am Nachbarschalter,
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