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Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
Autoren: J.M. Coetzee
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Handtuch trocknet er den Jungen ab. »Geh jetzt ins Bett«, sagt er.
    »Ich habe Hunger«, klagt der Junge.
    »Hab Geduld. Morgen früh gibt’s ein reichliches Frühstück, versprochen. Denk daran.« Er steckt ihn ins Bett, gibt ihm einen Gutenachtkuss.
    Aber der Junge ist nicht müde. »Warum sind wir hier, Simón?«, fragt er leise.
    »Hab ich dir doch gesagt: Wir sind hier nur für ein oder zwei Nächte, bis wir eine bessere Unterkunft finden.«
    »Nein, ich meine, warum sind wir gerade
hier
?« Seine Geste umfasst das Zimmer, das Zentrum, die Stadt Novilla, alles.
    »Du bist hier, um deine Mutter zu finden. Ich bin hier, um dir zu helfen.«
    »Aber nachdem wir sie gefunden haben, warum sind wir dann hier?«
    »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Wir sind aus dem gleichen Grund hier wie alle anderen auch. Wir haben die Chance bekommen zu leben und wir haben diese Chance ergriffen. Zu leben ist großartig. Das Größte, was man sich vorstellen kann.«
    »Aber müssen wir hier leben?«
    »Hier im Gegensatz zu wo? Es gibt sonst keinen anderen Ort. Mach jetzt die Augen zu. Schlafenszeit.«

Drei
    E r wacht gut gelaunt auf, voller Tatkraft. Sie haben eine Unterkunft, er hat Arbeit. Es ist an der Zeit, sich der Hauptaufgabe zu widmen – die Mutter des Jungen zu finden.
    Er lässt den Jungen schlafen und schleicht sich aus dem Zimmer. Das Hauptbüro hat gerade geöffnet. Ana, hinter dem Schalter, begrüßt ihn mit einem Lächeln. »Hatten Sie eine gute Nacht?«, fragt sie. »Haben Sie sich eingewöhnt?«
    »Vielen Dank, wir haben uns eingewöhnt. Aber jetzt muss ich Sie noch einmal um einen Gefallen bitten. Sie erinnern sich vielleicht, dass ich Sie danach fragte, wie man Angehörige aufspüren könne. Ich muss Davids Mutter finden. Das Problem ist, dass ich nicht weiß, wo ich anfangen soll. Führen Sie ein Register der Menschen, die hier in Novilla ankommen? Wenn nicht, gibt es ein Zentralregister, das ich einsehen kann?«
    »Wir legen eine Akte von jedem an, der durch das Zentrum hereinkommt. Aber Akten werden nicht weiterhelfen, wenn Sie nicht wissen, wonach Sie suchen. Davids Mutter wird einen neuen Namen haben. Ein neues Leben, ein neuer Name. Erwartet sie Sie?«
    »Sie hat nie etwas von mir gehört, daher hat sie keinen Grund, mich zu erwarten. Aber sobald das Kind sie sieht, wird es sie erkennen, das weiß ich.«
    »Wie lange sind sie schon getrennt?«
    »Das ist eine verwickelte Geschichte, ich will Sie damit nicht belasten. Lassen Sie mich einfach sagen, dass ich David versprochen habe, seine Mutter zu finden. Ich habe ihm mein Wort gegeben. Darf ich also Einblick in Ihre Akten nehmen?«
    »Aber ohne einen Namen, wie soll Ihnen das weiterhelfen?«
    »Sie bewahren Kopien von Pässen auf. Der Junge wird sie anhand eines Fotos erkennen. Oder ich. Ich werde sie erkennen, wenn ich sie sehe.«
    »Sie sind ihr nie begegnet, werden sie aber erkennen?«
    »Ja. Getrennt oder gemeinsam werden er und ich sie erkennen. Davon bin ich überzeugt.«
    »Was ist mit dieser anonymen Mutter selbst? Sind Sie sicher, dass sie mit ihrem Sohn wieder vereint werden will? Es mag herzlos klingen, doch die meisten haben, wenn sie dann hierher gelangt sind, das Interesse an alten Verbindungen verloren.«
    »Dieser Fall ist anders, wirklich. Ich kann nicht erklären, warum. Also: Darf ich Ihre Akten einsehen?«
    Sie schüttelt den Kopf. »Nein, das kann ich nicht erlauben. Wenn Sie den Namen der Mutter hätten, wäre das etwas anderes. Aber ich kann Sie nicht unsere Unterlagen willkürlich durchstöbern lassen. Das ist nicht nur gegen die Vorschriften, es ist absurd. Wir haben Tausende Einträge, Hunderttausende, mehr als Sie zählen können. Woher wissen Sie außerdem, dass sie durch das Zentrum in Novilla gekommen ist? In jeder Stadt gibt es ein Aufnahmezentrum.«
    »Zugegeben, es ist unlogisch. Trotzdem bitte ich Sie. Das Kind ist mutterlos. Es ist verloren. Sie müssen doch gesehen haben, wie verloren es ist. Es befindet sich im Niemandsland.«
    »Im Niemandsland? Ich weiß nicht, was das heißen soll. Die Antwort ist: nein. Ich werde nicht nachgeben, bedrängen Sie mich also nicht. Es tut mir leid für den Jungen, doch das ist nicht die korrekte Vorgehensweise.«
    Zwischen ihnen entsteht ein langes Schweigen.
    »Ich kann es spät nachts machen«, sagt er. »Keiner wird es merken. Ich werde still sein, ich werde diskret sein.«
    Aber sie hört ihm nicht zu. »Hallo!«, sagt sie über seine Schulter hinweg. »Bist du gerade erst
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