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Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
Autoren: J.M. Coetzee
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Sprosse. Von unten kommt ein kurzer Applaus. Er beißt die Zähne zusammen. Noch achtzehn Stufen (er hat sie gezählt). Er wird nicht versagen.
    Langsam, Stufe für Stufe, nach jedem Tritt pausierend, auf sein rasendes Herz achtend (wenn er nun einen Herzanfall erleidet? Wie peinlich wäre das!), steigt er hinauf. Oben angekommen schwankt er, fällt vornüber, so dass der Sack aufs Deck stürzt.
    Er kommt wieder auf die Füße und zeigt auf den Sack. »Kann einer mir helfen?«, sagt er und versucht, seinen keuchenden Atem unter Kontrolle zu bekommen und beiläufig zu klingen. Willige Hände wuchten ihm den Sack auf den Rücken.
    Die Planke hat ihre eigenen Schwierigkeiten: mit der Bewegung des Schiffes schwankt sie sachte von einer Seite zur anderen und bietet ihm keinerlei Stütze wie die Leiter. Er gibt sein Bestes, um sich beim Herabschreiten aufrecht zu halten, obwohl das bedeutet, dass er nicht sieht, wohin er die Füße setzt. Er fixiert den Jungen, der regungslos neben dem Vorarbeiter steht und zusieht.
Ich darf ihm keine Schande machen!
, sagt er sich.
    Ohne zu stolpern erreicht er den Kai. »Nach links!«, ruft ihm der Vorarbeiter zu. Mühsam dreht er sich um. Ein Wagen kommt gerade heran, ein niedriger, flacher Wagen, gezogen von zwei mächtigen Pferden mit zottigen Fesseln. Percheronpferde? Er hat noch nie ein lebendes Percheron gesehen. Ihr Uringestank umgibt ihn.
    Er dreht sich und lässt den Getreidesack auf die Wagenfläche fallen. Ein junger Mann mit einem zerknautschten Hut springt leichtfüßig auf und zieht den Sack nach vorn. Eins der Pferde lässt einen Haufen dampfender Äpfel fallen. »Aus dem Weg!«, ruft es hinter ihm. Es ist der nächste Schauermann, der nächste seiner Arbeitskameraden mit dem nächsten Sack.
    Er kehrt zurück in den Laderaum, kommt mit einer zweiten Last wieder, dann mit einer dritten. Er ist langsamer als seine Kameraden (sie müssen manchmal auf ihn warten), aber nicht allzu viel langsamer; mit der Gewöhnung an die Arbeit und der Ertüchtigung seines Körpers wird er besser werden. Doch nicht zu alt.
    Obwohl er die anderen Männer aufhält, spürt er keine Feindseligkeit bei ihnen. Im Gegenteil, sie gönnen ihm das eine oder andere aufmunternde Wort und einen freundlichen Klaps auf den Rücken. Wenn das die Arbeit eines Schauermanns ist, dann ist das kein schlechter Job. Zumindest leistet man etwas. Zumindest hilft man, Getreide auszuladen, Getreide, das zu Brot, der Grundlage des Lebens, werden wird.
    Eine Pfeife ertönt. »Pause«, erklärt der Mann neben ihm. »Na ja, wenn du mal – du weißt schon.«
    Zu zweit pinkeln sie hinter einem Schuppen, waschen sich die Hände an einem Wasserhahn. »Kann man hier irgendwo eine Tasse Tee bekommen?«, fragt er. »Und vielleicht etwas zu essen?«
    »Tee?«, sagt der Mann. Er ist offenbar belustigt. »Nicht dass ich wüsste. Wenn du Durst hast, kannst du meinen Becher benutzen; bring aber morgen deinen eigenen mit.« Er füllt seinen Becher am Hahn, reicht ihn dann rüber. »Bring auch ein Brot mit, oder ein halbes Brot. Es ist ein langer Tag auf nüchternen Magen.«
    Die Pause dauert nur zehn Minuten, dann geht das Ausladen weiter. Als der Vorarbeiter mit seiner Pfeife das Ende des Arbeitstages anzeigt, hat er einunddreißig Säcke aus dem Laderaum auf den Kai getragen. An einem vollen Arbeitstag könnte er vielleicht fünfzig schaffen. Fünfzig Sack pro Tag: zwei Tonnen, ungefähr. Nicht die Menge. Ein Kran könnte zwei Tonnen auf einmal bewegen. Warum benutzen sie keinen Kran?
    »Ein guter junger Mann, dein Sohn hier«, sagt der Vorarbeiter. »Keinerlei Probleme.« Zweifellos nennt er ihn einen jungen Mann,
un jovencito
, damit er sich gut fühlt. Ein guter junger Mann wird heranwachsen, um auch Schauermann zu werden.
    »Wenn ihr einen Kran besorgen würdet«, bemerkt er, »könntet ihr das Entladen zehnmal so schnell schaffen. Selbst mit einem kleinen.«
    »Stimmt«, pflichtet ihm der Vorarbeiter zu. »Aber welchen Sinn hätte das? Welchen Sinn hätte es, die Arbeit zehnmal so schnell zu schaffen? Es herrscht ja kein Notstand, eine Nahrungsmittelknappheit zum Beispiel.«
    Welchen Sinn hätte das? Es klingt wie eine echte Frage, nicht wie ein Schlag ins Gesicht. »Damit wir unsere Kräfte einer besseren Aufgabe widmen können«, schlägt er vor.
    »Besser als was? Besser als unsere Mitmenschen mit Brot zu versorgen?«
    Er zuckt mit den Schultern. Er hätte den Mund halten sollen. Bestimmt wird er nicht sagen:
Besser als
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