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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi
Autoren: Steve Stern
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1999
    I rgendwann während seines rastlosen fünfzehnten Lebensjahrs entdeckte Bernie Karp in der Gefriertruhe seiner Eltern - einem weiß emaillierten Kelvinator, der in der Ecke des Hobbyraums im Keller vor sich hin brummte - einen alten Mann in einem Eisblock. Eigentlich hatte er nach einer Scheibe Fleisch gesucht, allerdings nicht, um sie zu essen. Nachdem er seinen Eltern vor Kurzem ihre Ausgabe eines Skandalromans der Sechziger stibitzt hatte, in dem der jugendliche Held mit einem Stück Leber verkehrt, fühlte sich Bernie dazu bewogen, ihm nachzueifern. Sich selbst zu berühren war ihm keineswegs fremd, doch er wagte kaum davon zu träumen, einen anderen Menschen zu berühren, so unerreichbar schienen ihm die Körper junger Mädchen. Bisher hatte er so etwas wie physische Intimität nur mit dem Staubsauger seiner Mutter, zahllosen Socken und einem aus dem Korb mit Schmutzwäsche im Badezimmer entwendeten orchideenrosa Höschen seiner älteren Schwester erlebt. Dann war er auf den Roman gestoßen, den seine Eltern einmal verlegen als Pflichtlektüre ihrer Jugend erwähnt hatten, als er zufällig mithörte. Obwohl er kein Leser war und auch sonst nicht besonders aktiv am Leben teilnahm, hatte Bernie die eindeutigeren Stellen des Buches überflogen und war so auf die Idee verfallen, ein Stück Leber aufzutauen.
    Bernie schob Rinderbraten, Truthähne und Schweinefilets zur Seite und grub sich tiefer in die gefrorenen Speisen hinein als je zuvor. Nachdem er Gitterkörbe geleert und entfernt hatte, stieß er am Boden des Behältnisses auf einen grünlichen Eisblock, der sich über die gesamte Länge der Tiefkühltruhe erstreckte. Achtlos verstreute er einzeln verpackte Steaks, Pommes-, Häppchen- und Erbsenschachteln und konnte schließlich unter der gekräuselten Eisoberfläche die deutlich erkennbare Gestalt eines Mannes ausmachen. Der alte Kerl hatte ein hageres Falkengesicht, eingefallene Wangen und einen strähnigen gelblichen Bart und trug auf dem Kopf eine Mütze, die aussah wie ein Damenmuff. Sein ausgemergelter Körper war in ein papierartiges schwarzes Gewand gehüllt, das ihm bis zu den Knien reichte. Die spindeldürren, an den Knöcheln überkreuzten Beine waren in weiße Strümpfe gekleidet. Die Füße steckten in Spangenstiefeln, die sich an der Spitze hochbogen, und die Arme waren hinter dem Kopf verschränkt, als würde er ein gemütliches Nickerchen halten.
    Bernies unmittelbare Reaktion war Panik. Er war auf etwas Verbotenes gestoßen und überlegte fieberhaft, wie er seine Spuren verwischen sollte. Hektisch rollte er die Fleischbrocken zurück auf das Eis, schlug den Deckel der Kühltruhe zu und stürmte hinauf in sein Zimmer, wo er ins Bett kroch und darauf wartete, dass sich sein galoppierendes Herz beruhigte. Dem einzelgängerischen, bockigen Jungen, auf dessen Pausbacken die ersten Zeichen von zystischer Akne prangten, war jede Art von Galopp völlig fremd. Doch am nächsten Tag kehrte Bernie in den Keller zurück, um sich zu vergewissern, dass ihn seine Augen nicht getäuscht hatten. Und beim Abendessen, das sonst im Zeichen monotoner Erzählungen seines Vaters über Geschäftsprobleme und des gelangweilten Desinteresses seiner Frau stand, nuschelte Bernie: »In der Tiefkühltruhe liegt ein alter Mann.« Eigentlich hatte er gar nicht davon anfangen wollen. Wenn seine Eltern dort unten im Keller ein schmutziges Geheimnis hatten, ging ihn das nichts an. Was hatte ihn also dazu getrieben, damit herauszuplatzen?
    »Hast du was gesagt?« Mr. Karp war verwundert, dass sein Sohn das für ihn typische mürrische Schweigen beim Essen brach. Immer noch kaum hörbar wiederholte Bernie seine Feststellung.
    Mr. Karp schob die flaschenglasdicke Brille zurück über den Nasenhöcker und schaute seine Frau an, die mit ihrem Löffel in der Fleischbrühe rührte. »Was will er uns damit sagen?«
    Es dauerte einen Augenblick, bis sich der Nebel auf ihrem aufgedunsenen Gesicht lichtete. »Vielleicht hat er das Ding gefunden.«
    »Das Ding.« Mr. Karp klang unaufgeregt.
    »Du weißt schon, der weiße Elefant.«
    »Der wa …?« Mr. Karp wurde still und nestelte mit beiden Händen an dem gelockerten Knoten seiner Krawatte herum. »Ach das.«
    »Es ist kein Elefant«, nörgelte Bernie.
    Mr. Karp räusperte sich. »Weißer Elefant, das ist nur ein Ausdruck, so was wie ein Erbstück. Manche Leute haben präparierte Haustiere im Speicher, wir haben einen gefrorenen Rabbi im Keller. Eine alte
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