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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi
Autoren: Steve Stern
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nehmen, neben dem Eisblock zu wachen. Er bewunderte die Ruhe des alten Mannes, während er zugleich wie die Jünger damit rechnete, dass das Eis jederzeit Sprünge bekommen und der rebbe aus seinem Schlummer erwachen könnte. Allerdings drängte es ihn nicht danach, dieses Ereignis zu beschleunigen, so friedlich war das Warten. Um einen Grund für sein Verweilen in der Nähe des Eishauses zu haben, gab er vor, seinem Vater zu helfen, doch als König Cholera schließlich dahinterkam, dass nicht unternehmerischer Geist seinen Sohn beflügelte, sondern der gefrorene Rabbi, fand er sich endgültig damit ab, dass der Junge ein hoffnungsloser Fall war. Außerdem war Salos schelmischen Altersgenossen nicht entgangen, wie sehr er sich dem Eishaus verbunden fühlte, und sie gaben ihm den Spitznamen Salo Frostbissen, der ihm blieb.
    So kam es, dass Salo am Morgen des Pogroms auf einer Kohlkiste saß und die leicht verzerrten Gesichtszüge des Rabbis betrachtete, dessen glückseliger Frieden in sein furchtsames Herz eingedrungen war. Um ihn herum waren die Eisplatten zu Regalen und Nischen aufgeschichtet, in denen Fisch, Geflügel und Kwas lagerten. In einem Winkel wartete der stocksteife Hund Aschmodai des Hutmachers Lejbl auf das Frühlingstauwetter, um bestattet zu werden. Reif überzog alle Krüge und Töpfe, bis sie aussahen wie Gefäße aus Zuckerwatte. Von der gewölbten Decke hingen Stalaktiten wie Fangzähne. Doch die Wärme, die Salo im Beisein des rebbe spürte - noch verstärkt durch die Schaffelljacke, deren Kragen er sich über die Ohren zog -, vertrieb die arktische Kälte praktisch aus der Grotte, deren unterwasserartiges Licht das Eis selbst auszustrahlen schien. »Die Chassidim sizn schiwe, und du sitzt schief herum«, klagte Salos Vater, doch die Gegenwart des Rabbis vertrieb alle Schreckensbilder aus der Fantasie des Jungen, und die Welt kam ihm beinahe vor wie eine idyllische Winterpastorale. Daher hörte Salo nichts von den Schreien der Gepeinigten und Geschändeten, von den jammernden Frauen und dem zerberstenden Glas, und auch den Rauch aus der brennenden Synagoge roch er nicht. Erst der schameß, der Synagogendiener Itsche Bejla Pejse, der den Verstand verloren hatte und auf der Straße heulte wie eine Hyäne, riss Salo aus seiner Versunkenheit.
    Um nachzusehen, was da draußen geschah, hob er den breiten Hintern, kroch über die rutschige Rampe hinauf und wand sich zur Luke hinaus, durch die die großen, rechteckigen Eisstücke in die Höhle glitten. Er stolperte hinunter ins Dorf, vorbei an den Grenzmarkierungen für den schabeß, wo der Schnee an manchen Stellen mit Pflaumenkonfitüre vollgekleckert schien. Vor dem Tor der glühenden Holzsynagoge pumpte eine Mutter ihrem hingestreckten Sohn mit einem Blasebalg Luft in die Lunge, um ihn wiederzubeleben. Auf dem zerfurchten mark-plaz flehte eine geschändete Tochter ihren Vater auf Knien an, sie nicht zu verstoßen. Der Zug aus Wagen, auf denen bereits steif werdende Leichen zum Friedhof gekarrt wurden, wetteiferte mit der muntereren Parade von Bauern, die Samoware, Nachttöpfe, ein Grammofon mit Trompetentrichter und eine Kuckucksuhr wegschleppten. Als er in seinen klobigen Stulpenstiefeln dahinstapfte, stieß Salo aus Versehen den Kantor Schikl Beugüber um, der noch im Stehen vor Schreck gestorben war wie die Frau des Lot. Er hielt inne, um den Toten wieder aufzurichten, doch dann merkte er, was er da tat, und begriff, dass das, was hier geschehen war, all seine Fantasien weit in den Schatten stellte. Damit wurde seiner Neigung zu makabren Hirngespinsten ein für alle Mal ein Ende gesetzt, was Salo, der mit einem Schlag erwachsen wurde, mit Dankbarkeit erfüllte.
    Er trat in die verrauchte, schindelbedeckte Hütte, die er und sein Vater ihr Heim nannten, und musste zu seinem Leidwesen feststellen, dass er zur Waise geworden war wie sein Vater vor ihm. Josl König Cholera lag in der steifen Lederschürze, die er zur Arbeit angezogen hatte, auf dem zerkratzten Lehmboden, den Kopf von seiner eigenen Eiszange zermalmt. Wie ein riesiges Gabelbein ragten die Eisengriffe der Zange über seinen zerquetschten Schädel hinaus, und das Blut strömte ihm in karmesinroten Bächen aus den Ohren. Hilflos würgend erbrach sich Salo und sank auf die Knie, um die noch erkennbaren Züge seines Vaters zu berühren: ein blauer, arthritisch geschwollener Knöchel, eine leere, blutegelartige Unterlippe. Lange lag er da, ohne die geringste Neigung, sich jemals wieder zu
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