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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi
Autoren: Steve Stern
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Übergewichtig und wenig unternehmungslustig, hatte er keine echten Freunde, denen er die Geschichte hätte erzählen können. Abgesehen davon wollte er das sowieso nicht, schließlich ging es niemanden was an. Doch selbst Bernie musste sich eingestehen, dass sich etwas verändert hatte. Es war noch immer Spätsommer, und wie es seine Gewohnheit war, verbrachte er den größten Teil seiner Zeit vor dem Fernseher, kaute Schokobällchen und bearbeitete sich selbst. An seinem inneren Auge zogen comicartige Bilder vorbei, ohne deutliche Eindrücke zu hinterlassen: Ein gescheiterter Selbstmordattentäter wurde zu Salven von Konservengelächter von seiner verschleierten Mutter getröstet; ein kleines Mädchen bewahrte Gott in ihrem Wandschrank auf; ein herzerwärmendes Hallmark-Drama porträtierte einen Angehörigen der Navy-Spezialeinheit SEAL, der sich in eine Meerjungfrau verliebt hatte; und ein Reality-TV-Programm schickte zwei Behinderte zu einem Blind Date nach Disneyworld. Ob Wahlen, Massaker, Promischeidungen oder Firmenabstürze - alles schmolz wie Schnee auf einem Treibhausfenster, wenn es zu Bernies Gehirn vorgedrungen war. Trotzdem blieb er ein passiver Gefangener des flimmernden Bildschirms in dem holzimitatgetäfelten Kellerraum, der weitgehend sein Privatreich war. Das einzige kleine neue Muster im Gewebe seiner Tage war, dass Bernie sich während des Zappens durch zahllose Sender mit den Seiten des Kontenbuchs Luft zufächerte, in dem ein ihm unbekannter Großvater die Geschichte des gefrorenen Rabbi in einer fremden Sprache aufgezeichnet hatte. Ähnlich wie Gebetsperlen befummelte er die Blätter, und in regelmäßigen Abständen stand er auf und schlurfte zur Tiefkühltruhe, wo er Brathähnchen und abgepacktes Rinderhack wegrollte, um sich zu vergewissern, dass der Alte noch da war.
    Dann kam das Wochenende, als seine Eltern der kostenlosen Einladung zu einer Haushaltsgerätetagung in Las Vegas folgten. Natürlich hatten sie keine Bedenken, den halbwüchsigen Bernie allein zu lassen, da der Junge nie auch nur die leiseste Neigung an den Tag gelegt hatte, irgendeinen Unfug zu treiben, und die eigenwillige Madeline, die Semesterferien hatte, mit ihren neunzehn Jahren ohnehin tat, wonach ihr der Sinn stand. Am Freitagabend um acht Uhr brach ein Gewitter los, einer jener fast schon tropischen Stürme mit taifunartigen Windstärken, die im August häufig durch Bernies im Süden gelegene Stadt fegten. Die Fernsehnachrichten meldeten, dass in der näheren Umgebung Trichterwolken gesichtet worden waren, deren Enden sich wie Bohrer durch das morastige Gelände pflügten und Wohnwagen auseinanderrissen. Blitze zuckten und Donner krachte wie Kesselpauken, der Regen hämmerte auf das Dach des zweistöckigen Kolonialhauses. Währenddessen saß Bernie auf den weichen Polstern des Sofas im Hobbyraum und bekam kaum mit, was draußen vor sich ging. Das lag nicht etwa an seiner Furchtlosigkeit, sondern daran, dass natürliche Ereignisse kaum mehr Wirkung auf ihn ausübten als TV-Ereignisse - und sogar deutlich weniger, wenn es sich um eine Werbung für Playtex-BHs oder eine Reklame seines Vaters für preisreduzierte Haushaltsgeräte zur Hauptsendezeit handelte.
    Nach einem gewaltigen Krachen, das klang, als wäre das Firmament auseinandergebrochen, erloschen die Lichter, und das Fernsehbild schrumpfte zu einem Punkt, ehe es ganz verschwand. Bernie verharrte in der fensterlosen Dunkelheit und hielt das Kontenbuch umklammert. Was hätte er sonst auch tun sollen? Seine Schwester war mit einem ihrer Verehrer ausgegangen, doch ihre Gesellschaft wäre ohnehin kein großer Trost gewesen. So blieb ihm nichts anderes übrig, als dem propellerartigen Dröhnen des Winds zu lauschen und darauf zu warten, dass das Wasser über die Dachrinnen trat. Als das Gewitter nach einiger Zeit nachließ, war der Junge fast enttäuscht. Aber noch immer gab es keinen Strom, und nach dem Abklingen des Sturms nahm er ein hohles Pochen wahr, das ganz aus der Nähe kommen musste. Eine Weile hörte Bernie zu, als wäre das Trommeln ein verschlüsselter Kommunikationsversuch. Dann erhob er sich aus den Tiefen des Sofas und tastete sich zu dem Regal, das überquoll von den gerahmten Urkunden und den Pokalen seines Vaters. Weil die zentrale Klimaanlage ausgefallen war, schwitzte Bernie stark, als er sich bückte, um einen Einbauschrank unter dem Regal zu öffnen. Er wühlte blind zwischen verstaubten Weinflaschen und Fotoalben herum, bis er auf den
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