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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi
Autoren: Steve Stern
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gerippten Griff einer Plastiktaschenlampe stieß. Er schaltete sie an und richtete den Strahl in die Ecke, aus der das Klopfen kam.
    Über die Gefriertruhe gebeugt hob Bernie langsam den Chromgriff an. Sofort flog der Deckel auf, und pampige Steaks und Filets schlitterten auf den Boden, als sich wie ein antiker Schachtelteufel ein völlig durchweichter Mann aufsetzte, dessen Pelzmütze stank wie ein verrottender Tierkadaver. Einen Moment lang waren der Alte und der Junge mit dem herunterhängenden Kiefer ganz voneinander gebannt, dann verengte sich das scharlachfarbene Auge des Alten, und sein Blick verhärtete sich zu einem bohrerähnlichen Starren, er schüttelte sich und fragte mit rostiger Stimme: »Is doß majn orn?«
    Selbst wenn er etwas verstanden hätte, hätte Bernie keine Antwort gewusst.
    Stöhnend versuchte der alte Mann, dessen Hände und Gesicht die Beschaffenheit von feuchtem Pappmaschee zeigten, sich aufzurichten, nur um spritzend zurück in die Tiefkühltruhe zu stürzen. »Doß is efscher gan ejdn?«
    Wieder konnte Bernie, dessen Herz wie wild gegen den Brustkasten hämmerte, nur den Kopf schütteln.
    »A glomp«, bemerkte der Rabbi bestimmt, »a chochem fun Chelm.« Er streckte seine dürren Arme aus, damit der Junge ihm half. Zuerst blieb Bernie reglos vor Schreck, doch angesichts der gebieterischen Pose des Alten machte er unwillkürlich einen Schritt nach vorn. Der Rabbi war nur ein Federgewicht, doch die durchtränkten rituellen Gewänder hingen schwer an ihm. Als er ihn anhob, hatte der Junge das Gefühl, in einen Ringkampf geraten zu sein. Die verrotteten Kleider hingen wie Eierschalenstücke an einem frisch geschlüpften Vogel, und kaum war es Bernie gelungen, den Alten aus seinem matschigen Sarkophag zu ziehen, als sie zusammen auf den Knüpfteppich purzelten. Genau in diesem Moment sprangen die Lichter wieder an, und auf dem Bildschirm des laut plärrenden Fernsehers verzog ein selbstgefälliger Showmaster das Gesicht, während sich die Kandidaten die Nase zuhielten, um die Plazenta von Wühlmäusen zu verschlingen. Der aufgetaute Rabbi lag ausgestreckt auf Bernie, der ihn noch nicht losgelassen hatte, und schielte interessiert auf die Sendung.
    »Wo bin ich?«, erkundigte er sich.
    In diesem Augenblick erspähte Bernies Schwester, die ihren mit Bermudas und Wappenblazer bekleideten Begleiter an der Hand die Kellertreppe hinunterzog, den halb nackten alten Herrn, der sich mühsam aus der Umarmung ihres Bruders löste, und schrie Zeter und Mordio.

1890-1907
    D a es auf der von so vielen vertriebenen Seelen überfüllten Zarenstraße nur langsam voranging, hielt sich Salo an die weniger befahrenen Nebenwege. Dies war die gefährlichere Route, denn die Masse bot eine gewisse Sicherheit. Allein war er anfälliger gegen Überfälle von Räubern und Bauern, die die Gelegenheit in Boibicz versäumt hatten - oder in Schmedletz, Smorgon oder Smirs, die ebenfalls von Juden gesäubert worden waren. Aber Salo, den Kopf umhüllt von seinem schmutzigen taleß und gekrönt von einer Schirmmütze, um sich gegen die Nadeln aus eisigem Schneeregen zu schützen, zog das Risiko den endlosen Reihen von Flüchtlingen vor. Er hatte die Nase voll von der Apathie, die über ihrem Zug lag wie ein Leichentuch, über diesen erzwungenen Marsch in ein neues Vergessen, für das die Juden geboren schienen. Sollte er deshalb Schuldgefühle haben? War er vielleicht ein apikojreß, ein Ketzer, wenn er nach dem Mord an seinem Vater und der Zerstörung seines Heimatdorfs solch freudige Erregung empfand? Doch so wahr ihm Gott helfen mochte, nach siebzehn Jahren fast ununterbrochener Versunkenheit war er wie berauscht davon, aufgewacht und in die reale Geschichte eingetaucht zu sein. Er war Salo Frostbissen, der selbst ernannte Hüter eines schlafenden Heiligen, und auch wenn er mit den löchrigen, wegen der Kälte mit Lumpen umwickelten Stiefeln aussah wie ein Schnorrer, erfüllte ihn die Gewissheit, über Nacht zu einem gewichtigen Mann mit vielen Talenten gereift zu sein.
    In dieser Meinung bestärkten ihn jene, die ihm andernfalls vielleicht Schaden zugefügt hätten: die berittenen Kosaken in ihren bortenbesetzten Umhängen und Pelzmützen, die neben seinem Karren dahintrabten und Salo mit der Zwangsrekrutierung drohten, die für einen Juden auf den endgültigen Verlust seiner Freiheit oder seines Lebens hinauslief. Mit ihren Offiziersstöcken hoben sie sein schwaches Kinn an und warfen ihm vor, nach Judenart Schätze in
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