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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi
Autoren: Steve Stern
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ausgefallenen Gefäßen zu verbergen. Dann wollten sie nachsehen, was er in dem Sarg versteckt hatte. Bei den ersten Begegnungen dieser Art fragte sich Salo, ob er dieses Ansinnen prinzipiell ablehnen sollte, selbst wenn er sich dadurch in Gefahr brachte. Denn war es nicht eine Entweihung, wenn er diesen Quälgeistern erlaubte, den Inhalt des Schreins zu begaffen? Da die Betreuung des rebbe jedoch erforderte, dass Salo am Leben blieb, ließ er sich letztlich dazu herbei, den Deckel anzuheben (die Soldaten hätten es sowieso getan), und danach verebbten alle Fragen. Bestürzt bohrten die Kosaken ihren Rössern die Sporen in die bebenden Flanken und galoppierten in einem Sprühregen aus Schlamm davon. Nach einer Weile machten Soldaten und Bauern einen weiten Bogen um den Jüngling mit seiner seltsamen Fracht. Dies schrieb Salo der beunruhigenden Wirkung des steifen Heiligen auf die gojim zu, die sich anscheinend in der ganzen Gegend herumgesprochen hatte.
    Er war überzeugt, dass Rabbi Elieser ben Zephir auf ihn achtgeben würde, solange er selbst auf den zadik achtgab. Doch fürs Erste musste er hungern, obwohl gelegentlich eine mitfühlende Baba Jaga aus ihrer Hütte trippelte, um ihm einen schalen pirog oder eine mehlige Kartoffel zu schenken. Davon ernährte er sich tagelang und hob die Reste unter dem Sackleinen in dem gekühlten Sarg auf, um sie einigermaßen frisch zu halten. Schwindlig vor Hunger geriet Salo manchmal ins Tagträumen. Der Fluss, über den er soeben befördert worden war (als Gegenleistung las er dem analphabetischen Fährmann laut aus der Heiligen Schrift vor), war der verlorene Sambation, an dessen anderem Ufer das Land der unsterblichen rothaarigen Juden begann. Oder war er völlig von der kartografierten Welt abgetrieben und hatte die Grenze zur sitra achra, zum Reich der Dämonen, überschritten, das außerhalb der Gerichtsbarkeit Gottes lag? Doch auch wenn er sich ihnen hingab, erkannte Salo in diesen Vorstellungen bloße Schatten toter Fantasien, den letzten Nachhall des schussligen Bengels, der er noch vor Kurzem gewesen war. Außerdem schmolz ihm mit jeder weiteren verpassten Mahlzeit mehr von seinem restlichen Kindheitsspeck von den Knochen, und obwohl ihm keine Spiegel zur Verfügung standen, konnte Salo spüren, dass er sich in jemand anders verwandelte: Er war ein junger Mann, der eine heilige Bürde durch eine bedrohliche Winterlandschaft trug, der Held seiner eigenen Geschichte, der nicht mehr darauf angewiesen war, sich mit Aberglauben und Ammenmärchen zu belasten.
    In der dritten Woche nach dem Aufbruch aus seinem heimatlichen schtetl stieß Salo auf einen gedrungenen Bauern im Schafpelz, der auf der Straße dahinschlurfte und ein Seil festhielt, das ihm über die Schulter hing. Am anderen Ende des Seils war eine Schlinge, in der der Hals einer Frau steckte. Ihre Nase ragte aus den Falten eines zerlumpten Schals, und auch sonst war sie anhand ihrer ausgemergelten Züge leicht als leidende Jüdin zu erkennen. Salos erster Impuls war, dem Bauern respektvoll zuzunicken und an ihm vorbeizuziehen. Die Reise hatte ihren Tribut gefordert: Das Pfeifen seines leeren Magens wetteiferte mit den Darmwinden seiner klapprigen Mähre, und seine Füße schmerzten, als würde er über Glasscherben trampeln; ganz zu schweigen von der gnadenlosen Kälte, die sein Gehirn gefrieren ließ. Doch einem stärkeren Drang als dem der Selbsterhaltung folgend, sprach Salo den Mann in einem gebrochenen Polnisch an, das er seit seiner Geburt gehört hatte. Fast hätte er seine eigene Stimme nicht wiedererkannt.
    »Woß hoßt du da, mein Freund?«
    »Bist du blind, mein Freund?« Ohne mit seiner Feindseligkeit hinter dem Berg zu halten, setzte der Bauer seinen Weg fort.
    Daraufhin fasste Salo nach Bat-Schevas Zügel, um sie zum Stehen zu bringen, und erkundigte sich in einem möglichst diplomatischen Tonfall: »Entschuldige, aber hot dich noch niemand gefragt, ob du überhaupt hoßt ein Recht auf die Frau?«
    Jäh erstarrte der Bauer und drehte sich um, das Gesicht so dunkel wie eine violette Zwiebel. »Ich hab sie im Dorf Plok gefunden«, bellte er. »Sie gehört mir.«
    »Streitet doß ja auch niemand ab«, meinte der junge Mann versöhnlich, um dann sanft hinzuzufügen: »Aber verzeihst du, ist sie denn kein Mensch?«
    Der Bauer fixierte Salo wie einen Schwachkopf. »Dass sie keine Ziege ist, weiß ich.«
    Grinsend entschied sich Salo für ein anderes Vorgehen. Er räusperte sich und nahm eine Haltung ein,
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