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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi
Autoren: Steve Stern
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über solche Demonstrationen hinaus und zog es vor, seine Kräfte im Stillen wirken zu lassen. Er lag mit dem Rücken am moosbewachsenen Ufer des Teichs, die Hände hinter dem Kopf gefaltet, wie es der Gürtel vorschrieb, während sich seine neschome, seine Seele, zum Oberen Paradies aufschwang. Dort saß seine Seele glückselig im Kreis der Thoragelehrten. Einmal jedoch kam bei einer seiner besonders intensiven Meditationen - es war der Monat siwan, kurz nach dem schawuot - ein mächtiger Sturm auf. Da seine Seele in höheren Sphären schwebte, blieb sein Körper, so schwach er auch war, unempfindlich gegen die Launen der irdischen Welt; und während der Sturm tobte und ein Wolkenbruch auf seine schmächtige Gestalt niederprasselte, setzte Rabbi Elieser seine Meditationen in aller Ruhe fort. Der durchweichte Boden, auf dem er lag, verwandelte sich in Schlamm, und das Wasser im seichten Weiher stieg immer mehr, bis es über seine Beine hinauf zu den Hüften, über seine Brust und zuletzt über sein altersgraues Haupt kroch.
    Bis dahin hatte sich der Weise immer darauf verlassen können, dass ihm der schulklaper, der die Gläubigen zum Gebet rief, den Zeitpunkt der Wiedervereinigung von Körper und Seele anzeigte, doch die Sturzflut übertönte alle Geräusche über der Oberfläche des Teichs, der rasch zum See anschwoll.
    Eliesers kleine Schar von Jüngern hatte sich längst daran gewöhnt, dass er sich häufig zurückzog, aber dass er nach einem derart schrecklichen Sturm so lange ausblieb, versetzte sie doch in große Sorge. Nach mehreren Tagen zog eine Gruppe von Rabbi Eliesers Chassidim mit wallenden Schläfenlocken und Gewändern, die flatterten wie Krähenflügel, aus, um Wiesen und Gestrüpp zu durchkämmen, die als Lieblingsorte des zadik bekannt waren. Umgestürzte Bäume, deren Wurzeln aufragten wie Hydraköpfe, die aufgeblähten Kadaver ertrunkener Schweine und Bauernhütten ohne Dächer fanden sie, aber keinen Rabbi Elieser. Einige seiner Gefolgsleute kamen sogar an dem ehemaligen, in ein ansehnliches Gewässer verwandelten Weiher vorbei, in dem das Boibiczer Wunder in seiner mystischen Verzückung lag. Als Wochen ohne ein Gerücht über den Aufenthalt ihres geistigen Führers vergingen, stellten die Chassidim die Suche widerstrebend ein; sie zerrissen ihre Gewänder, schlugen sich auf die Hühnerbrust und streuten sich Asche übers Haupt, weigerten sich jedoch, das kaddisch zu sprechen, weil sie samt und sonders der Meinung waren, dass ihr rebbe eines Tages gewiss zurückkehren würde.
    Die Jahreszeiten wechselten, auf den rostbraunen und goldenen Herbst folgte der alabasterweiße Winter, und noch immer war Rabbi Elieser in seine Unterwassermeditationen versunken. Der Boden war bedeckt, und wie fahrende Händler unter ihren Brotsäcken krümmten sich die Bäume unter der schweren Last des Schnees, doch der Körper des rebbe blieb unberührt von jeglichem Verfall. Um diese Zeit pflegte der fleißige Witwer Josl König Cholera, begleitet von seinem nutzlosen Sohn Salo, seinen Schlitten über die Schneefelder zu den Ufern des Unteren Bug zu ziehen, um Eis zu ernten. (Dieser Josl war eine Waise und während einer Seuche mit einer anderen Waise verheiratet worden, um Gottes Zorn zu besänftigen - daher sein Name.) In diesem Jahr erzählten ihm jedoch die chejder jinglß, die Schuljungen, die auf dem Pferdeteich auf Baron Jagiellos Grundbesitz Schlittschuh liefen, dass der Weiher nach den Sommergewittern die Größe eines Binnenmeeres angenommen hatte. Nachdem er sich persönlich davon überzeugt hatte, ging Josl mit dem Hut in der Hand zum Baron und bat um die Erlaubnis, Eis aus dem See schneiden zu dürfen. Als Gegenleistung bot er an, kostenlos die Bestände des Guts aufzufüllen. Stets liebenswürdig, wenn es seinen Interessen diente, erteilte der Baron Josl die Genehmigung, und der Eismensch machte sich auf den Weg über die Felder, gefolgt von seinem Sohn.
    An dem übervollen Teich fanden sie mehrere Talmudschulschwänzer vor, die mit hölzernen Kufen wacklige Spiralen und Arabesken auf die jadegrüne gefrorene Oberfläche zeichneten. Josl stieg von seinem Schlitten und trat mit seinen genagelten Stiefeln aufs Eis, um dessen Stärke zu prüfen. Zufrieden machte er sich schließlich daran, mit der Axt einen Graben auszuschlagen. Er rief seinem Sohn zu, ihm die zweihändige Eissäge zu bringen, aber Salo, der ebenso ängstlich wie faul war, wagte sich nur bis zum Seeufer, um seinem Vater das Werkzeug zu
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