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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi
Autoren: Steve Stern
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reichen.
    »Amorez!«, schimpfte Josl zum eisengrauen Himmel. »Zieht er an verkehrt seine Schuh und haut sich blutig die Nase, weil er stolpert über die eigenen Beine.« Doch dabei ließ Josl es bewenden, da er es schon längst aufgegeben hatte, von seinem Sohn etwas Nützliches zu erwarten. Die Furcht vor fast allem im Dasein schien ihn vom Leben selbst freizusprechen, von Arbeit ganz zu schweigen, und manchmal fragte sich sein Vater, ob Salo, dessen Mutter bei der Geburt gestorben war, überhaupt richtig zur Welt gekommen war.
    Während sein Vater schuftete, bummelte Salo am Seeufer herum, wie immer beschämt von seinem Zaudern, doch überzeugt, dass das Eis sein üppiges Gewicht nicht tragen würde. Gelegentlich ging er so weit, den Fußballen auf die verharschte Oberfläche zu setzen und mit der Schuhsohle einen spiegelglatten Kreis darauf zu malen. Doch statt durch das polierte Bullauge zu spähen, wandte sich Salo meistens einfach ab, aus Angst, etwas Unerfreuliches könnte sich darunter verbergen. Einmal bemerkte er einen Fisch, der wie der Flügel eines Monarchfalters in einer dunklen Welt jenseits der Zeit schwebte. Und dann, nachdem er wieder einen Kreis blank gescheuert und ausnahmsweise einen Blick riskiert hatte, fiel ihm das Gesicht eines alten Mannes mit gelblichem Bart auf.
    »Papa!«, rief Salo erschrocken.
    Ohne besondere Eile stapfte Josl hinüber, um herauszufinden, worüber sein Sohn diesmal jammerte. »Gewalt«, rief er aus, als er sah, was der Nichtsnutz zufällig entdeckt hatte. »Es ist der rebbe!« Bis ins Mark erschüttert, ohrfeigte Josl sich selbst, um wieder zu sich zu kommen. Dann trommelte er die anderen Jungen zusammen (sein eigener war zu langsam) und schickte sie mit der Neuigkeit zur schul der Chassidim. Atemlos eilten die Jünger des rebbe herbei und stellten fest, dass Josl Cholera bereits angefangen hatte, ihren verschollenen geistigen Führer zu bergen. Mit Seil und Enterhaken zerrte der Eismensch, dessen bärtige Kiefer vor Anstrengung arbeiteten, als steckten sie in einem Futterbeutel, einen großen Eisblock ans Seeufer, in dem der rebbe eingeschlossen war.
    Dann lag das Boibiczer Wunder auf einem Schneehügel vor ihnen, und seine wie Dampfmaschinen schnaufenden Jünger hatten nicht die leiseste Ahnung, was sie als Nächstes tun sollten. Gewiss war es ein Segen, den zadik offenkundig unversehrt, wenngleich steif gefroren, wieder in ihrer Mitte zu haben, doch was nun? Früher hätten sie den rebbe um Rat bitten können, aber es war klar, dass er sich in seinem jetzigen Zustand nicht äußern konnte. Sodann konnte man natürlich die Heilige Schrift befragen, aber selbst die Gewissenhaftesten unter ihnen - jene, die vorschrieben, welche Abschnitte der Thora beim Geschlechtsverkehr in Betracht zu ziehen waren, oder ob es erlaubt war, am schabeß in den Schnee zu pinkeln (was gleichbedeutend mit Pflügen, also Arbeit und damit verboten war) - kannten keine einschlägigen Passagen für ein Dilemma dieser Art. Dann machte einer aus ihren Reihen, der schaufelbärtige Hefehändler Fischel Ostrow, den Vorschlag, Fackeln anzuzünden und den Heiligen an Ort und Stelle aufzutauen. Seiner Ansicht nach war Rabbi Elieser während seiner Verzückung gefeit gegen alle Verheerungen durch Zeit und Elemente und würde, nachdem das Eis geschmolzen war, in all seiner früheren Frische wiederhergestellt werden. Gedankenvolles Gemurmel machte die Runde, bis ein weiserer Kopf die Stimme erhob.
    »Besserwisser«, schalt der Fuhrmann Berel Schweinehaupt den Hefeverkäufer und wies eindringlich auf die Gefahr hin, dass der aufgetaute rebbe verwesen und seine Gebeine - Gott behüte! - zum Fraß für Würmer werden könnten. Sicher war es besser, ihn irgendwo aufzubewahren, damit er heil blieb, bis er sich aus freien Stücken dafür entschied, sich aus seinem kühlen Kerker zu befreien. Wieder wurde bejahendes Gemurmel laut, als sich Josl König Cholera, der weder Chassid noch mitnagig, sondern einfach nur ein Opportunist war, in seiner Eigenschaft als Besitzer des Boibiczer Eishauses zu Wort meldete. »Meine Herren, gegen eine geringe Gebühr …«
     
    Das Boibiczer Eiswerk war eine fensterlose Granitgrotte, die Riesen oder gefallene Engel in vorsintflutlicher Zeit in den Nordhang eines Berges am Ortsrand gegraben hatten. Jedenfalls ging so die Legende. Josl Cholera wusste nur, dass er das Eishaus nach dem Tod des früheren Eigentümers Mendel Sfarb geerbt hatte, dessen Familie sich rühmte, es schon
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