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Bevor ich verbrenne

Bevor ich verbrenne

Titel: Bevor ich verbrenne
Autoren: Gaute Heivoll
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I
    A m 5 . Juni 1978 löschte Johanna Vatneli einige Minuten nach Mitternacht das Licht in der Küche und schloss vorsichtig die Tür. Sie ging die vier Schritte durch den kalten Flur und öffnete die Tür zum Schlafzimmer einen Spalt, so dass ein Lichtstreifen auf die graue Wolldecke fiel, die sie trotz der sommerlichen Temperaturen über sich legten. In der Dunkelheit lag ihr Mann Olav und schlief. Sie blieb einige Sekunden in der Tür stehen und hörte seinen schweren Atem, dann ging sie in das kleine Badezimmer, wo sie wie gewöhnlich leise Wasser aus dem Hahn fließen ließ. Lange stand sie vornübergebeugt und wusch sich das Gesicht. Es war kalt, sie stand barfuß auf einem Lappen und spürte den harten Boden unter ihren Füßen. Einen Moment sah sie sich selbst in die Augen. Normalerweise tat sie so etwas nicht. Sie beugte sich ein wenig vor und blickte lange in die schwarzen Pupillen. Dann richtete sie ihr Haar und trank ein Glas kaltes Wasser aus dem Hahn. Schließlich zog sie eine frische Unterhose an. Die alte war voller Blut. Sie faltete sie zusammen und legte sie in eine Schale mit Wasser, damit sie über Nacht einweichen konnte. Sie zog das Nachthemd über den Kopf und spürte in diesem Moment den Stich im Bauch. Sie hatte ihn immer gespürt, aber in der letzten Zeit war es schlimmer geworden, vor allem, wenn sie sich streckte oder etwas Schweres hob. Wie ein Messer.
    Bevor sie das Licht löschte, nahm sie ihre Zähne heraus und ließ sie in das Wasserglas auf der Ablage unter dem Spiegel plumpsen, neben Olavs.
    Dann hörte sie ein Auto.
    Im Wohnzimmer war es dunkel, aber durch die Fenster drang ein Schein, so merkwürdig glänzend und schwarz, wie von einem schwachen Licht draußen im Garten. Langsam ging sie zum Fenster und blickte hinaus. Im Süden hing der Mond hell über den Baumwipfeln, sie sah den Kirschbaum, der noch in Blüte stand, und wäre es nicht zu diesig gewesen, hätte sie bis zum Livannet-See im Westen sehen können. Ein Auto fuhr mit erloschenen Scheinwerfern am Haus vorbei und dann langsam weiter auf der Straße nach Mæsel. Es war ganz schwarz, aber möglicherweise auch rot. Unmöglich zu erkennen. Der Wagen fuhr sehr langsam, schließlich bog er in die Kurve und verschwand. Johanna blieb am Fenster stehen und wartete ein, zwei, vielleicht drei Minuten. Dann ging sie in die Schlafkammer.
    »Olav«, flüsterte sie. »Olav.«
    Keine Antwort, er schlief so tief wie immer. Sie lief zurück ins Wohnzimmer und stieß an die Armlehne des Stuhls; sie spürte den Schmerz im Oberschenkel, und als sie das Fenster erreichte, sah sie das schwarze Auto zurückkommen. Es kam aus der Kurve und fuhr langsam am Wohnzimmer vorbei. Es musste am Haus der Knutsens gewendet haben, aber dort wohnte doch niemand, sie waren am Abend zuvor in die Stadt zurückgekehrt; sie hatte selbst gesehen, wie sie abfuhren. Johanna Vatneli hörte das Knirschen der Autoreifen vor dem Haus. Das leise Brummen des Motors. Das Geräusch eines Radios. Dann blieb der Wagen stehen. Sie hörte die Tür aufgehen. Stille. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Wieder lief sie in die Schlafkammer, schaltete das Licht ein und rüttelte ihren Mann. Diesmal wachte er auf, doch noch bevor er aufstehen konnte, hörten sie einen lauten Knall und splitterndes Glas aus der Küche. Schon auf dem Flur roch sie den durchdringenden Geruch nach Benzin. Sie riss die Küchentür auf und sah sich einer Feuerwand gegenüber. Der gesamte Raum stand in Flammen. Es musste in Sekunden passiert sein. Der Boden, die Wände, die Decke, die Flammen leckten und heulten wie ein großes, verletztes Tier. Wie gelähmt blieb sie in der Tür stehen. Tief in dem Geheul erkannte si e – obwohl sie es nie zuvor gehört hatt e – das Geräusch von zerplatzendem Glas. Sie blieb stehen, bis die Hitze unerträglich wurde. Sie hatte das Gefühl, als würde sich ihr Gesicht auflösen, als würde es von der Stirn nach unten gezogen, über die Augen, die Wangen, die Nase, den Mund.
    In diesem Augenblick sah sie ihn. Es dauerte nicht länger als zwei, höchstens drei Sekunden. Wie ein schwarzer Schatten stand er direkt vor dem Fenster, auf der anderen Seite des Flammenmeeres. Als wäre er festgefroren. So wie sie. Dann riss er sich los und verschwand.
    Der Flur war bereits voller Rauch, der durch die Wand aus der Küche quoll und sich wie dichter Nebel unter die Decke legte. Sie fand das Telefon, hob den Hörer ab und wählte die Nummer von Ingemann in Skinnsnes; nach den
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