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Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
Autoren: J.M. Coetzee
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wieder.«
    »Kann ich nicht mit Señora Weiss sprechen?«
    »Heute Vormittag findet eine Versammlung des leitenden Personals statt. Señora Weiss nimmt daran teil. Sie ist heute Nachmittag wieder da.«

Zwei
    I m Bus 29 schaut er sich das
vale de trabajo
an, das man ihm gegeben hat. Es ist nur ein von einem Notizblock abgerissener Zettel, auf den gekritzelt steht: »Der Inhaber ist Neuankömmling. Bitte berücksichtigen Sie ihn bei der Arbeitsvergabe.« Kein Amtsstempel, keine Unterschrift, lediglich die Initialen P . X . Es wirkt alles sehr formlos. Ob das ausreicht, um ihm Arbeit zu beschaffen?
    Sie sind die letzten Fahrgäste, die aussteigen. Wenn man bedenkt, wie weitläufig die Hafenanlagen sind – so weit das Auge reicht erstrecken sich flussaufwärts Kais –, wirkt alles seltsam verlassen. Nur auf einem Kai scheint etwas los zu sein: Ein Frachter wird beladen oder entladen, Männer gehen eine Planke hinauf und hinunter.
    Er wendet sich an einen hochgewachsenen Mann im Overall, der offenbar das Geschehen überwacht. »Guten Tag«, sagt er. »Ich suche Arbeit. Im Umsiedlungszentrum hat man mir gesagt, ich solle mich hierher wenden. Sind Sie der richtige Ansprechpartner? Ich habe ein
vale

    »Sie können mit mir sprechen«, sagt der Mann. »Aber sind Sie nicht etwas zu alt für einen
estibador

    Estibador
? Er schaut offenbar verblüfft drein, denn der Mann (der Vorarbeiter?) stellt pantomimisch dar, dass er sich eine Last auf den Rücken lädt und unter dem Gewicht schwankt.
    »Ah,
estibador
!«, ruft er aus. »Entschuldigen Sie, mein Spanisch ist nicht besonders gut. Nein, überhaupt nicht zu alt.«
    Stimmt das, was er sich gerade sagen gehört hat? Ist er wirklich nicht zu alt für schwere Arbeit? Er fühlt sich nicht alt, wie er sich auch nicht jung fühlt. Er hat überhaupt kein Gefühl für sein Alter. Er fühlt sich alterslos, wenn das möglich ist.
    »Versuchen Sie es mit mir«, schlägt er vor. »Wenn Sie entscheiden, dass ich es nicht schaffe, werde ich sofort aufgeben, ohne es Ihnen übelzunehmen.«
    »Gut«, sagt der Vorarbeiter. Er knüllt das
vale
zusammen und wirft es in hohem Bogen ins Wasser. »Du kannst sofort anfangen. Der Junge gehört zu dir? Er kann hier bei mir bleiben, wenn du willst. Ich habe ein Auge auf ihn. Und was dein Spanisch angeht – mach dir keine Gedanken, bleib dran. Eines Tages empfindet man es nicht mehr als eine Sprache, es wird ganz selbstverständlich.«
    Er wendet sich an den Jungen. »Willst du bei dem Herrn hier bleiben, während ich die Säcke tragen helfe?«
    Der Junge nickt. Er hat wieder den Daumen im Mund.
    Die Planke ist gerade breit genug für einen Mann. Er wartet, während ein Schauermann mit einem prall gefüllten Sack auf dem Rücken herabkommt. Dann klettert er aufs Deck und eine stabile Holzleiter hinunter in den Laderaum. Seine Augen brauchen eine Weile, um sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen. Im Laderaum stapeln sich gleichförmige prall gefüllte Säcke, Hunderte, vielleicht Tausende.
    »Was ist in den Säcken?«, fragt er den Mann neben sich.
    Der Mann wirft ihm einen seltsamen Blick zu.
»Granos«
, sagt er.
    Er möchte fragen, was die Säcke wiegen, aber es ist keine Zeit dazu. Er ist an der Reihe.
    Oben auf dem Stapel hockt ein großer Kerl mit muskulösen Armen und einem breiten Grinsen, dessen Aufgabe es offensichtlich ist, dem nächsten in der Reihe wartenden Schauermann einen Sack auf die Schultern zu laden. Er wendet ihm den Rücken zu, der Sack kommt herab; er schwankt, packt dann die Zipfel, wie er es bei den anderen Männern beobachtet hat, tut einen ersten Schritt, einen zweiten. Ist er wirklich in der Lage, die Leiter hochzusteigen, mit dieser schweren Last auf dem Rücken, wie die anderen? Schafft er das?
    »Langsam,
viejo
«, sagt eine Stimme hinter ihm. »Lass dir Zeit.«
    Er setzt den linken Fuß auf die unterste Leitersprosse. Es ist eine Sache der Balance, sagt er sich, des Gleichgewichts, der Sack darf nicht verrutschen oder sein Inhalt sich verlagern. Wenn die Dinge erst einmal ins Rutschen und Gleiten kommen, bist du geliefert. Vom Schauermann wirst du wieder zum Bettler, der in einem Wellblechunterschlupf im Hinterhof einer Fremden vor Kälte zittert.
    Er zieht den rechten Fuß hoch. Allmählich lernt er etwas über die Leiter – wenn du dich mit dem Brustkorb an ihr abstützt, dann stabilisiert dich das Gewicht des Sacks, statt dass es dich aus dem Gleichgewicht zu bringen droht. Sein linker Fuß findet die zweite
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