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Das Rote Kornfeld

Das Rote Kornfeld

Titel: Das Rote Kornfeld
Autoren: Mo Yan
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Erstes Kapitel
 
Rote Hirse
     
     
1
     
    Am neunten Tag des achten Monats des Jahres 1939 nach dem alten Kalender schloss sich mein Vater, Spross einer Familie von Rebellen und gerade fünfzehn geworden, dem Trupp des Kommandanten Yu Zhan’ao an, eines Mannes, der später zu einem sagenumwobenen Helden werden sollte. Sie hatten vor, auf der Landstraße von Jiao nach Pingdu eine japanische Lastwagenkolonne zu überfallen. Großmutter, die eine warme Jacke übergeworfen hatte, begleitete sie bis zum Rand des Dorfes. «Bleib stehen», befahl Kommandant Yu. Großmutter blieb stehen.
    «Douguan, höre auf deinen Pflegevater», ermahnte Großmutter meinen Vater, der schwieg. Der Anblick von Großmutters hochaufgeschossener Gestalt und der Duft ihrer gefütterten Jacke ließen ihn erschauern. Er zitterte, und sein Magen knurrte.
    Kommandant Yu strich ihm übers Haar und sagte: «Gehen wir, Pflegekind.»
    Himmel und Erde waren in Aufruhr, die Landschaft verschwamm vor dem Auge, das gedämpfte Getrampel des Trupps klang aus weiter Ferne herüber. Vater konnte sie noch hören, aber die Männer selbst waren hinter einem weißblauen Nebelvorhang verschwunden. Vater hielt sich am Zipfel von Kommandant Yus Mantel fest und rannte stampfenden Schrittes voran. Das stürmische Nebelmeer kam immer näher, und Großmutter verschwand am fernen Ufer. Er hielt sich an Kommandant Yus Mantel fest wie an der Reling eines Bootes.
    So eilte mein Vater dem unbehauenen Granitfelsen entgegen, der ihm inmitten der roten Hirsefelder seiner Heimat zum Grabstein werden sollte. Jahre später führte ein kleiner Junge mit nacktem Hintern einen weißen Ziegenbock an das unkrautüberwucherte Grab, und während der Bock ruhig und zufrieden graste, pisste der kleine Junge voll Inbrunst auf das Grab und sang aus voller Kehle: «Die Hirse ist rot, der Japaner kommt, Landsleute, seid bereit, feuert aus allen Rohren!»
    Irgendjemand hat behauptet, der kleine Ziegenhirt sei ich gewesen, aber ich weiß nicht, ob das stimmt. Damals liebte ich die Gemeinde Nordost-Gaomi von ganzem Herzen und hasste sie gleichzeitig mit zügelloser Wut. Erst als Erwachsener habe ich erkannt, dass Nordost-Gaomi der zweifellos schönste und abstoßendste, einzigartigste und gewöhnlichste, heiligste und korrupteste, heroischste und feigste, trinkfreudigste und liebestollste Ort auf der Welt ist. Damals, zur Zeit meines Vaters, aßen die Dorfbewohner mit Vorliebe Zuckerhirse und pflanzten so viel davon an, wie sie nur konnten. Im Spätherbst, im achten Monat nach dem alten Kalender, schimmerten die üppigen roten Hirsefelder wie ein Meer von Blut. Die rote Hirse war der Glanz von Gaomi; kühl und lieblich war sie und mächtig; süß und leidenschaftlich waren ihre Wellen.
    Der Herbstwind ist frisch und kühl, die Sonne strahlt hell. Weiße, pralle runde Wolken treiben am tiefblauen Himmel und werfen purpurne, pralle runde Schatten auf die Hirsefelder. Jahrzehntelang, über Jahrzehnte, die nur ein Moment der Ewigkeit sind, huschten scharlachrote menschliche Gestalten durch die Hirsefelder und verwoben sich zu einem gewaltigen menschlichen Netz. Sie töteten, sie plünderten, sie verteidigten ihr Land in einem tapferen, aufwühlenden Ballett, neben dem wir, ihre getreuen Nachkommen, die heute das Land bewohnen, blass erscheinen. Inmitten des Fortschritts ahne ich beunruhigt den Rückschritt der menschlichen Gattung.
    Nachdem sie das Dorf verlassen hatten, marschierte der Trupp einen engen Feldweg entlang. Der Klang ihrer Schritte verschmolz mit dem Rascheln des Unkrauts. Der dichte Nebel war seltsam belebt und bunt. Kleine Wassertropfen liefen auf Vaters Gesicht zu großen Tropfen zusammen; die Haare klebten ihm an der Stirn. Der leichte Pfefferminzduft und der süßliche, durchdringende Geruch der Hirse, die ihn vom Wegrand her umwehten, waren vertraut. Das alles war nicht neu. Aber als sie durch den dichten Nebel marschierten, entdeckte seine Nase einen neuen, ekelerregenden süßlichen Geruch, irgendetwas zwischen Gelb und Rot. Er mischte sich mit dem Duft von Pfefferminze und Hirse und rief tief in seiner Seele verborgene Erinnerungen wach.
    Sieben Tage später, am fünfzehnten Tag des achten Monats, dem Tag des Mittherbstfestes. Ein heller voller Mond stieg langsam am Himmel über den feierlich stummen Hirsefeldern auf und badete die Rispen in schimmerndem Quecksilber. Zwischen den scharf umrissenen Lichtflecken roch Vater einen ekelerregenden, intensiv süßen Duft, wie man ihn
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