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Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
Autoren: J.M. Coetzee
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nicht. Er ruft ihr zu: »Bitte – nicht so schnell!« Sie hört nicht auf ihn. In immer größer werdendem Abstand folgt er ihr quer durch den Park, über eine Straße, über eine zweite Straße.
    Vor einem schmalen, bescheiden wirkenden Haus bleibt sie stehen und wartet. »Hier wohne ich«, sagt sie. Sie schließt die Haustür auf. »Folgt mir.«
    Sie führt sie einen düsteren Flur entlang, durch eine Hintertür, morsche Holzstufen hinunter in einen kleinen Hof, in dem Gras und Unkraut wuchern, auf zwei Seiten von einem Holzzaun umgeben und auf der dritten Seite von einem Maschendrahtzaun.
    »Setzt euch«, sagt sie und deutet auf einen rostigen gusseisernen Stuhl, der halb im Gras verborgen ist. »Ich besorge euch was zu essen.«
    Er möchte sich nicht setzen. Er wartet mit dem Jungen bei der Tür.
    Die junge Frau erscheint wieder mit einem Teller und einem Krug. Im Krug ist Wasser. Auf dem Teller liegen vier Scheiben Brot mit Margarine. Genau dasselbe hatten sie zum Frühstück beim Wohlfahrtsstützpunkt.
    »Als Neuankömmling sind Sie gesetzlich verpflichtet, in einer offiziell zugelassenen Unterkunft oder aber im Zentrum zu wohnen«, sagt sie. »Doch es geht in Ordnung, wenn Sie die erste Nacht hier verbringen. Da ich beim Zentrum beschäftigt bin, können wir behaupten, dass mein Zuhause als offiziell zugelassene Unterkunft gilt.«
    »Das ist sehr freundlich von Ihnen, sehr großzügig«, sagt er.
    »Dort drüben sind noch einige übrig gebliebene Baumaterialien.« Sie deutet darauf. »Sie können sich einen Unterschlupf bauen, wenn Sie möchten. Soll ich Sie jetzt machen lassen?«
    Er starrt sie verblüfft an. »Ich weiß nicht, ob ich verstanden habe«, sagt er. »Wo genau werden wir die Nacht verbringen?«
    »Hier.« Sie deutet auf den Hof. »Ich bin gleich zurück und überzeuge mich, wie Sie zurechtkommen.«
    Die fraglichen Baumaterialien sind ein halbes Dutzend Wellbleche, stellenweise durchgerostet – zweifellos alte Dachbleche – und einige Bauholzreste. Ist das ein Test? Will sie wirklich, dass er und das Kind im Freien schlafen? Er wartet auf die versprochene Rückkehr, aber sie kommt nicht. Er klinkt an der Hintertür – sie ist verschlossen. Er klopft; nichts rührt sich.
    Was ist hier los? Steht sie hinter der Gardine und beobachtet, wie er reagiert?
    Sie sind keine Gefangenen. Es wäre eine leichte Sache, den Maschendrahtzaun zu überwinden und sich davonzumachen. Sollten sie das tun – oder sollte er abwarten, was als Nächstes geschieht?
    Er wartet. Als sie wieder auftaucht, geht die Sonne gerade unter.
    »Viel haben Sie nicht getan«, bemerkt sie stirnrunzelnd. »Hier.« Sie reicht ihm eine Flasche Wasser, ein Handtuch, eine Rolle Toilettenpapier; und als er sie fragend ansieht: »Keiner schaut zu.«
    »Ich habe mich anders entschieden«, sagt er. »Wir gehen zurück zum Zentrum. Dort muss es einen Aufenthaltsraum geben, wo wir die Nacht verbringen können.«
    »Das können Sie nicht. Die Tore zum Zentrum sind geschlossen. Sie schließen um sechs.«
    Verärgert geht er mit großen Schritten zum Stapel mit den Wellblechen, zieht zwei davon hervor und lehnt sie schräg an den Holzzaun. Dasselbe macht er mit einem dritten und vierten Blech und schafft so einen behelfsmäßigen Unterschlupf. »Haben Sie das für uns vorgesehen?«, sagt er an sie gewandt. Aber sie ist fort.
    »Hier werden wir heute Nacht schlafen«, sagt er dem Jungen. »Das wird ein Abenteuer.«
    »Ich habe Hunger«, sagt der Junge.
    »Du hast dein Brot nicht gegessen.«
    »Ich mag kein Brot.«
    »Nun, du wirst dich dran gewöhnen müssen, weil es nichts anderes gibt. Morgen werden wir was Besseres finden.«
    Misstrauisch nimmt der Junge eine Scheibe Brot und knabbert daran. Seine Fingernägel sind schwarz vor Schmutz, bemerkt er.
    Als das letzte Tageslicht schwindet, legen sie sich in ihren Unterschlupf, er auf ein Bett aus Unkraut, der Junge in seine Armbeuge. Bald ist der Junge mit dem Daumen im Mund eingeschlafen. In seinem Fall will der Schlaf nicht kommen. Er hat keinen Mantel; nach kurzer Zeit dringt die Kälte in seinen Körper; er beginnt zu frösteln.
    Es ist nicht schlimm
,
es ist nur Kälte, sie bringt dich nicht um
, sagt er sich.
Die Nacht wird vergehen, die Sonne aufgehen, der Tag kommen. Nur krabbelnde Insekten mögen ihm erspart bleiben. Krabbelnde Insekten wären wirklich zu viel.
    Er ist eingeschlafen.
    In den frühen Morgenstunden wacht er auf, mit vor Kälte steifen und schmerzenden Gliedern. Zorn steigt
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