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Music from Big Pink: Roman (German Edition)

Music from Big Pink: Roman (German Edition)

Titel: Music from Big Pink: Roman (German Edition)
Autoren: John Niven
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eins
    »Don’t you raise the sails anymore …«
    Toronto, 1986 • Ich weiß nicht, warum ich so weinen musste. Ich hatte den Kerl seit Jahren nicht mehr gesehen und seit Monaten nicht mehr an ihn gedacht. Und doch stand ich hier, direkt vor dem Mini-Markt, und heulte mir beim Lesen des Star die Augen aus dem Kopf. Meine Einkäufe – Dosensuppe, Toastbrot, Putenwurst, Scheibenkäse – waren aus der braunen Papiertüte gefallen und über den ganzen Bürgersteig verstreut.
    Schwerfällig setzte ich mich auf die Bordsteinkante (ich bin Mitte vierzig und bringe fast 140 Kilo auf die Waage – alles, was ich mache, geschieht schwerfällig) und starrte auf das Foto des ausgemergelten, vollbärtigen Richard in der Zeitung. Abermals las ich die Überschrift, in der Hoffnung, die Worte hätten in den letzten Sekunden eine neue Bedeutung gewonnen. Dass aus » TOT « irgendwie » GESUND UND MUNTER « geworden wäre. Oder » QUIETSCHFIDEL «. Was aber nicht der Fall war. Es hieß immer noch:
    SÄNGER VON THE BAND
TOT IN HOTELZIMMER AUFGEFUNDEN
    Selbstmord, hieß es. Der Arsch hatte sich erhängt. Ich heulte erneut drauflos. Eine beschissene Woche lag hinter mir, und der Artikel hatte mich kalt erwischt. Gerade erst war ich mit diesem Typen vom Lebensmittelladen aneinandergeraten. Er hatte mich beschuldigt, ihm Falschgeld unterzujubeln. Was nicht stimmte, auch wenn ich es zuvor bereits zweimal getan hatte und sogar damit durchgekommen war. Diesmal kriegten wir uns jedenfalls in die Haare. Ich war völlig pleite, zumindest bis nächste Woche der Scheck vom Sozialamt kam, und hatte mir seit dem Frühstück keinen Schuss mehr gesetzt. Es war jetzt später Nachmittag, und ich schlotterte am ganzen Körper. Im böigen Märzwind gefror mir der Schweiß regelrecht auf der Haut.
    Nach einiger Zeit blieb eine alte Dame stehen und wollte wissen, ob es mir gut ginge. Ich hob den Blick und betrachtete mein Spiegelbild in ihrer Kassenbrille: die fauligen Zähne, auf meinen fahlgelben Backen die Strahlenkränze geplatzter Blutgefäße. Kein schöner Anblick für uns beide. Wie ein Kind schluckte ich tapfer meine Tränen hinunter und nickte. Sie gab mir einen Dollar und ging weiter. Ich wischte mir mit einem zerlumpten Hemdsärmel das Gesicht, sammelte die billigen Lebensmittel zusammen und eilte nach Hause.
    Die Bude war das reinste Dreckloch. Meine Eltern hatten dreißig Jahre gebraucht, bis sie ihnen gehörte, und ich gerade mal drei, um sie in eine Müllkippe zu verwandeln. Ich hätte die Rollläden runtergelassen, aber sie waren bereits unten. Ich griff zu Löffel und Feuerzeug, dem braunen Pulver, Wattebällchen und der alten Spritze – einem Vorkriegsmodell aus Glas und Stahl, das mal meinem Vater gehört hatte.
    Die Gitarre jaulte auf wie ein steinalter Penner, der seinen letzten Atemzug keucht, die hölzernen Toms dröhnten tiefer als eine Erdspalte am Boden des Atlantiks. Ich zog mein Hemd aus, fand eine halbwegs brauchbare Vene, band sie ab, schob die Nadel hinein und drückte den Kolben runter. Ich drehte die alte Stereoanlage (ebenfalls von meinem Vater) bis zum Anschlag auf, legte mich auf den Teppich, und während mir der Stoff durch die Adern rauschte, rollte das Intro träge über mich hinweg. Dann der Song: sein Tempo schön langsam, langsam wie die Erinnerung, das Pochen meines Herzens. Und dann endlich Richards Stimme, zitternd vor Schmerz: »We carried you in our arms, on Independence Day.« Er sang die Worte so, wie er alles gesungen hatte: Als ob ihn die in den Zeilen enthaltene Aussage umbringen würde.
    Ich starrte in das schwarze, pochende Rund des Lautsprechers, spürte jedes Beben, jeden Puls atemgleich auf meinem Gesicht, fragte mich, ob die Fasern der Membran über all die Jahre wohl durchtränkt worden waren von den Tausenden von Songs und Millionen von Noten, die schaudernd ihr Netz durchdrungen hatten: elektrische Impulse, die zu einem Sound wurden, der sich in Bedeutung und Leid verwandelte. Ich wandte mich ab und blickte nach oben. Es kostete mich fast eine Minute. Über mir in der Decke war ein Riss, und wie durch Zauberei löste sich ein winziges Stück Putz und segelte herab, wie ein besonders trauriges Exemplar einer Schneeflocke oder vielleicht eines Blattes.
    Sechzehn Takte, ein Löffel iranisches Heroin, und ich war zwei Dekaden zurück in meiner Vergangenheit, schwebte glückselig durch eine andere Zeit, an einen anderen Ort. Eine Zeit, in der wir alle Geld machten, mit tollen Autos durch die
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