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Bis dein Zorn sich legt

Bis dein Zorn sich legt

Titel: Bis dein Zorn sich legt
Autoren: Åsa Larsson
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ICH ERINNERE MICH, wie wir gestorben sind. Ich erinnere mich, und ich weiß es. So ist das jetzt. Manche Dinge weiß ich, obwohl ich selbst nicht mit dabei war. Aber ich weiß nicht alles. Das nun wirklich nicht. Es gibt keine Regeln. Wie bei Menschen, zum Beispiel. Manchmal sind sie offene Räume, in die ich hineingehen kann. Manchmal sind sie verschlossen. Zeit gibt es nicht. Die scheint in viele Stücke zerbrochen zu sein.
    Der Winter kam ohne Schnee. Schon im September bildete sich das Eis, der Schnee aber zögerte.
    Es war der neunte Oktober. Die Luft war kalt. Der Himmel sehr blau. So ein Tag, den man gern in ein Glas gießen und trinken würde.
    Ich war siebzehn Jahre alt. Wenn ich noch lebte, wäre ich jetzt achtzehn. Simon war fast neunzehn. Er ließ mich fahren, obwohl ich keinen Führerschein hatte. Der Waldweg war voller Löcher. Ich fuhr gern Auto. Lachte jedesmal, wenn es ruckelte. Kies und kleine Steine schlugen gegen den Wagenboden.
    »Verzeihung, Bettan«, sagte Simon zum Auto und streichelte die Klappe des Handschuhfachs.
    Wir hatten keine Ahnung davon, dass wir sterben würden. Dass ich mit dem Mund voller Wasser schreien würde. Dass uns nur noch fünf Stunden blieben.
    Der Waldweg endete beim Sevujärvi. Wir luden das Auto aus. Immer wieder musste ich kleine Pausen einlegen und mich umsehen. Es war so überirdisch schön. Ich hob meine Hände zum Himmel, schaute aus zusammengekniffenen Augen in die Sonne, diesen weiß glühenden Ball, sah einem Wolkenfetzen nach, der hoch oben vorübertrieb. Die Berge waren Urzeitriesen, unveränderlich.
    »Was machst du?«, fragte Simon.
    Den Blick und die Arme noch zum Himmel gerichtet, antwortete ich: »Das hier gibt es in fast allen Religionen. Dass man nach oben schauen und die Hände nach oben strecken soll. Und das kann ich verstehen. Es tut einfach gut. Versuch es mal!«
    Ich holte tief Luft und ließ sie dann als große weiße Wolke aus mir entweichen.
    Er schüttelte lächelnd den Kopf. Wuchtete seinen schweren Rucksack auf einen Stein, um ihn sich auf die Schultern zu laden. Er sah mich an.
    Ach, ich weiß noch, wie er mich ansah. Als könne er sein Glück nicht fassen. Und es stimmt ja auch. Ich war keine x-Beliebige.
    Er versuchte immer, mich zu erforschen. Zählte meine Leberflecken. Oder tippte meine Zähne an, wenn ich lächelte, und zählte die Gipfel des Kebnekaisemassivs auf:
    »Sydtoppen, Nordtoppen, Drakryggen, Kebnepakte, Kaskasapakte, Kaskasatjåkko, Tuolpagorni.«
    »Eins zwei, beginnende Karies, eins eins, eindeutige Karies, zwei eins, distal«, gab ich zurück.
    Die Rucksäcke mit unserer Taucherausrüstung waren schwer.
    Wir wanderten zum See Vittangijärvi hoch. Dafür brauchten wir dreieinhalb Stunden. Wir sagten ganz schnell zueinander, welch ein Glück es sei, dass der Boden gefroren war, denn das erleichterte das Gehen. Wir schwitzten, blieben ab und zu auf einen Schluck Wasser stehen und einmal, um Butterbrote zu essen und aus einer Thermoskanne Kaffee zu trinken.
    Knisternd zerbrachen gefrorene Pfützen und winterkahles Moos unter unseren Schritten.
    Links von uns ragte der Berg Alanen Vittangivaara auf.
    »Da oben liegt eine alte samische Opferstätte«, sagte Simon und zeigte in diese Richtung. »Uhrilaki.«
    Das liebte ich an ihm. Dass er solche Dinge wusste.
    Am Ende hatten wir unser Ziel erreicht. Vorsichtig stellten wir unsere Lasten auf dem Boden ab und blieben lange stumm stehen, um auf den See hinauszuschauen. Das Eis lag wie eine dicke schwarze Glasscheibe auf dem Wasser. Eingefrorene Luftblasen durchzogen es wie zerrissene Perlenketten. Die Risse sahen aus wie gefaltetes Seidenpapier.
    Der Frost hatte in jeden Grashalm und jeden dünnen Zweig gekniffen, bis sie brüchig und knisternd weiß geworden waren. Preiselbeerkraut und Wacholdersträucher waren blutrot und violett geküsst worden. Und auf allem lag die weiße dünne Haut des Frosts. Eine Aura aus Eis.
    Es war unwirklich still.
    Simon wurde so nachdenklich und in sich gekehrt, wie er das oft wird. Er ist einer, der sagt, jetzt könne die Zeit anhalten. Oder das war er. Er war so einer.
    Aber ich habe es nie besonders lange in einem wortlosen Zustand aushalten können. Ich musste einfach rufen. Das viele Schöne dort, man hätte doch platzen können.
    Ich rannte hinaus aufs Eis. So schnell ich konnte, ohne auszurutschen, und danach pflanzte ich mich breitbeinig auf und glitt weit, weit.
    »Versuch das mal«, rief ich Simon zu.
    Wieder schüttelte er lächelnd den
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