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Muschelseide

Muschelseide

Titel: Muschelseide
Autoren: Federica de Cesco
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geschah das Wunderbare, und es fiel mir nicht mehr schwer, das Wesenlose mit dem sich Ereignenden zu verbinden. Alles war wieder gut, geopferte Leben sollten nicht noch einmal geopfert werden. Die Toten ließen es nicht zu, die Toten, die ihre Erfüllung im Reich der Träume längst gefunden hatten. In der Stille, in der mein Herz klopfte, hörte ich Großvater mit sachlicher Stimme sagen:
    »Dieses Gewebe, wie durchsichtig! Japanische Seide ist niemals so fein. Mich würde interessieren, welches Verfahren dabei zur Anwendung kam. Wissen Sie es?«
    Er fügte hinzu, dass er aus einer Familie von Seidenwebern stammte. Die Herstellung faszinierte ihn ebenso – ja fast mehr – als der sentimentale Wert des Tuches.
    »Das Handwerk ist viele tausend Jahre alt«, erwiderte ich, »droht aber leider auszusterben.«
    Und ich erzählte von Nona, der Frau, die wohl noch die Einzige war, die den »Bisso marino«, den goldenen Faden aus dem Meeresgrund, spinnen und verarbeiten konnte.
    »Wo lebt diese Frau?«, wollte Hiroko wissen.
    »Sie ist ursprünglich Italienerin. Jetzt lebt sie auf der Insel Gozo. «
    Kaori fragte leise, scheu:
    »Wo liegt diese Insel?«
    Ich warf ihr ein Lächeln zu. Ich empfand für diese junge Frau, der ich soeben erst begegnet war, eine außergewöhnliche Sympathie, eine fast schmerzliche Zuneigung. Ich hatte das Bedürfnis, sie in meine Arme zu schließen, meine Wange an ihre feste, junge Wange zu drücken, sie Schwester zu nennen, was vollkommen absurd war.
    Und so kam ich darauf, von Gozo zu erzählen, von der schönen kleinen Hauptstadt, die den ursprünglich arabischen Namen Mdina trug. Und ich erzählte von der großen Steckmuschel, der Pinna nobilis, und von meinen Bemühungen, das alte, wundervolle Handwerk wieder aufleben zu lassen. Ich erzählte ebenfalls, dass Nona erblinden würde, dass ihr einzigartiges Wissen Gefahr lief, bald vollständig vergessen zu werden.
    Eigentlich war es Kaori, zu der ich jetzt sprach. Sie hörte zu, sah dabei mit abwesendem Ausdruck zu Boden. Ihre Kinderhände waren ruhig auf den Knien gefaltet. Ihr Gesicht war fast ebenso starr wie das Antlitz der Verstorbenen auf dem alten Bild. Als ich gesprochen hatte, herrschte eine Weile Stille, bis Hiroko, die Augen auf das schillernde Gewebe gerichtet, mit bedauernder Stimme zu mir sagte:
    »Im Grunde müsste das Tuch jetzt vernäht werden. Meinen Sie nicht auch?«
    Ich schwieg zunächst, verblüfft darüber, dass Hiroko so etwas befürworten konnte. Ich wusste gar nicht, wie ich mich dazu äußern sollte. Ich musste erst über den wirklich erstaunlichen Vorschlag hinwegkommen. Schließlich antwortete ich:
    »Vernähen? Keiner, außer Nona, brächte das fertig!«
    Hiroko lächelte mit großem Nachdruck.
    »Doch, Beata-Chan. Ich kenne einen Menschen, der dazu fähig wäre.«
    Und sie wandte sich um, blickte zu der stillen, abseits sitzenden jungen Frau mit dem krausgelockten Haar und der dicken Hornbrille. Und diese, statt zurückzuschrecken, wie Kazuo und ich es eigentlich erwartet hätten, sah uns an, mit großen, blanken Augen. Und dann erhob sie sich, verneigte sich tief, zuerst vor dem Hausaltar und den Großeltern und dann vor Kazuo und mir.
    »Es wird mir eine Ehre sein«, sagte sie.
    Diese Worte, Kaori, du allein durftest sie aussprechen. Hiroko wusste, dass sie die Arbeit dir anvertrauen konnte. Sie wusste, dass du Feenhände hattest, dass dein wacher, beweglicher Geist dieser Aufgabe gewachsen war. Du wohntest als eine der Auserwählten in der beruhigten Tiefe des Lebens, die – wie das Meer – immer gleich bleibt, während Stürme Wellenstrudel erzeugen, von denen unter der Oberfläche deines Friedens gar nichts mehr zu spüren ist. Du hast gewartet, Kaori, einsam unter hohen Bäumen träumend, im Entwicklungsstand der Seidenraupen. Du kanntest den Sog der Fremdheit nicht, der nun in dein gewohnten Leben einzog; doch du wusstest, es war das, wonach du dich am meisten sehntest. Du warst dir deiner Anmut, deiner Kraft nicht bewusst. Du warst nur pflichteifrig, still, gehorsam. Und jetzt sah ich dich auf der Matte knien, Kaori, den Blick auf das Gewebe gerichtet, das um dich herum wie eine durchsichtige Wasserhaut bebte und atmete. Ich sah dich arbeiten, gesammelt, glücklich. Deine kleinen Hände hielten behutsam die Nadel, das feine Garn, und schienen die Seide kaum zu berühren. Zunächst wagte ich dich kaum zu betrachten, Kaori, aus Angst, meine Blicke könnten dich verwirren. Doch nichts von der Wirklichkeit
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