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Muschelseide

Muschelseide

Titel: Muschelseide
Autoren: Federica de Cesco
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Zeitgemäße war, das er im Grunde seines Herzens missbilligte, oder eine wehmütige Erinnerung an meine Mutter. Ricardo äußerte sich nicht dazu: Er liebte das Ungesagte, das Leise. Auch jetzt schüttelte er nur den Kopf und reichte mir Francescas Brief, der an diesem Morgen eingetroffen war, über den Tisch. Ich überflog die wenigen Zeilen. Die schwarze Tintenschrift war nachlässig, eher ein Gekritzel. Sie wolle kommen, schrieb sie, und dort sterben, wo sie geboren war. Wir sollten ihr ein Zimmer mit Bad bereit machen. Falls es inzwischen eines gäbe, sonst würde sie lieber ein Hotel beziehen. Moderner Komfort habe doch wohl auch in Valletta Einzug gehalten, oder etwa nicht? Der Ton war spröde, sarkastisch. Zwischen den Zeilen lag eine Anmaßung, die mir gefiel. Ich fand ihr Schreiben amüsant und, aus Familiensicht, sehr unkorrekt.
    Badezimmer hatten wir inzwischen drei, auf jedem Stockwerk eines. Mutter hatte sie in ehemaligen Abstellkammern einbauen lassen. Die Kacheln unter den Füßen und die Toilettendeckel waren sogar im Sommer eiskalt. Wir behalfen uns mit elektrischen Öfchen. Ein Fortschritt allerdings, und besser als nichts.
    Mutter war im vergangenen Oktober gestorben. Polyarthritis. Es lag bei ihr wohl in der Familie. Ein älterer Bruder hatte die gleiche Krankheit gehabt. Man hatte allzu lange unter sich und standesgemäß geheiratet, den Kindern fehlten die Abwehrkräfte. »Fin de race«, so nennen es die Franzosen. Und in der Nacht vor Mutters Begräbnis hatte Ricardo einen Hirnschlag erlitten. Eine schreckliche Nacht, die fürchterlichste meines Lebens. Wir mussten ohne ihn den Sarg in die Erde lassen. Vielleicht wollte er nicht dabei sein, oder er konnte ihre rasch entschwindende Gegenwart nicht ertragen, wollte sich mit ihr ins Dunkel fallen lassen. Jetzt ging es ihm besser. Ich sorgte dafür, dass er morgens und abends seine Tabletten nicht vergaß.
    Ich legte Francescas Brief akkurat in den Umschlag zurück.
    »Zimmer haben wir genug. Und Badezimmer auch. Warum hat sie uns nicht schon früher besucht?«
    »Sie arbeitet viel«, antwortete er ausweichend. »Ihre Bilder haben Erfolg. Sie hat etliche Preise gewonnen.«
    »Verheiratet?«
    »Dreimal. Und dreimal geschieden.« Ricardo seufzte. »Kein Wunder, dass es sie nie nach Europa gezogen hat. Wir sind in diesen Dingen altmodisch.«
    »Malta liegt doch nicht am Hintern der Welt«, erwiderte ich, wobei er leicht stutzte. Obwohl er mit zunehmendem Alter die Form weniger wichtig nahm, reagierte er auf schnodderige Redensarten empfindlich. Doch er ging nicht darauf ein und sagte lediglich:
    »Sie hat offenbar vergessen, dass wir im Haus so viele Treppen haben. Vielleicht sollte ich es ihr schreiben?«
    »Denkst du nicht, dass sie sich beleidigt fühlen könnte?« »Beleidigt? Warum denn beleidigt?«, fragte er.
    Seine Verwunderung wirkte nicht gerade unecht, aber ich entdeckte in seiner Gegenfrage doch eine Betonung, die unverkennbar auf Besorgnis hinwies. Als ob ich etwas sagen könnte, das er nicht hören wollte.
    »Na ja, sie könnte meinen, dass du sie nicht hier haben willst.«
    Offenbar hatte ich den Nagel auf dem Kopf getroffen, denn er entgegnete:
    »Warum bleibt sie nicht, wo sie ist, wenn sie Bescheid weiß?«
    Draußen war es bereits warm, und wir aßen im »Sommerspeisesaal« mit Blick auf den Garten. Säulen aus Stuck, hellblau bemalt, Möbel im Empirestil und heitere Gemälde an den Wänden – die düsteren hingen ein Stockwerk höher. Der Tisch, an dem Vater und ich uns gegenüber saßen, war mit Silber und altem Porzellan gedeckt und für eine Großfamilie gemacht. Zwischen uns lag ein vier Meter langes Tischtuch mit Klöppelstickerei. Die Stuhllehnen wiesen geschnitzte Blumen und Traubendolden auf. Nach einer Weile erschien Domenica, wechselte die Teller, brachte gebratene Leber, geschmorte Kartoffeln und Spinat aus der Küche, die ein Stockwerk tiefer lag, auf silbernen Platten herein. Mein Vater hatte nichts dagegen, dass Domenica neuerdings Hosen trug. Ihre Beine waren kurz und kräftig, ihre Augen so grau wie ihr Haar. Sie lächelte warmherzig, machte mit den Lippen ihre summenden Geräusche. Domenica war sprachlich zurückgeblieben. Das Bändchen unter ihrer Zunge war zu kurz, die Gaumenmuskulatur verkümmert. Ihre Eltern, einfache Leute, hatten nicht gewusst, dass eine kleine Operation im Kindesalter das Zungenbändchen hätte lösen können.
    Ich sagte ihr, dass wir uns selbst bedienen würden. Sie ging, und ich füllte
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