Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Muschelseide

Muschelseide

Titel: Muschelseide
Autoren: Federica de Cesco
Vom Netzwerk:
Mauern waren hoch. Immerhin standen alle Fenster offen; vielleicht kam das Gelächter aus einem benachbarten Haus.
    Während ich das Bild betrachtete, fühlte ich seine harte Beschaffenheit, den versilberten Rahmen, das Glas. Aber dahinter war etwas, das zu vibrieren schien. Natürlich bildete ich mir das nur ein, aber mir war plötzlich, als erhielte ich einen Schlag in die Magengrube. Eine Erinnerung stieg in mir empor. Sie war in einzelne Stücke zerfallen und hatte mit meiner Mutter zu tun. Ich mühte mich, diese Stücke schön auseinanderzuhalten, weil mir einzig die Trennung half, den Schreck von damals zu vergessen.
    »Schluss jetzt, Beata! Du bist wirklich ein ganz dummes, emotionales Schaf!«
    Ungeschickt stellte ich das Bild zurück an seinen Platz, ging eilig aus dem Zimmer und schloss die Tür. Mir schien, dass ich viel Lärm dabei machte, und mein Vater sollte seinen Mittagsschlaf halten. Für gewöhnlich wurde mein Privatleben von Bewegungsdrang geprägt und nicht von Neurosen. Ob man Gespenster sah oder nicht, mag von der Verdauung abhängen. Außerdem neigte ich zu Speck an den Hüften.
    In meinem Zimmer steckte ich mein Haar hoch, stopfte ein paar Sachen in eine Sporttasche. Ein paar Minuten später verließ ich das Haus im Laufschritt.
    Valletta döste in der Mittagsglut, alle Kirchenglocken schwiegen, die ockerfarbenen Sandsteine saugten Helle auf. Vor den Restaurants und Espressobars, zwischen Licht und Leuten, warfen dunkelrote Sonnenschirme Schatten auf erhitzte Gesichter. Ich ging schnell, ließ die Fußgängerzone hinter mir. In der Saint Johns Street, unweit des Busbahnhofs, holte ich meinen Wagen aus der Garage und fuhr nach Marfa.
    Weil die Straßen in der Mittagszeit wenig befahren waren, erreichte ich Marfa-Ridge in knapp einer Stunde. In Marfa hatte ich schon als Kind getaucht, und eigentlich kannte ich das Gebiet viel zu gut, aber es war bereits Nachmittag, zu spät für einen längeren Ausflug. Und weil Francesca bald in mein Leben treten würde, wollte ich – gewissermaßen als Beschwörung – der Madonna von Marfa einen Gruß darbringen. Francescas Brief war der einer Frau, die mit neunzig noch unsentimental, herb und voll wilden Lebens war. Kein Wunder, dass mein Vater sich vor ihr fürchtete, dass er ihr am liebsten geschrieben hätte, sie solle bleiben, wo sie war. Aber er würde es nicht tun. Er überließ sich seiner Apathie, genoss sie sogar, jetzt, da ich alles für ihn erledigte und er einfach nur dasitzen konnte. Na gut. Ich ließ ihm vieles durchgehen, weil er gelitten hatte. Aber mit Francesca war es doch anders. Die Vorstellung, dass ich bald eine Frau treffen würde, die zwar zur Familie gehörte, die ich aber zeitlebens nie gesehen hatte, war mir zwar unbehaglich, wie ich feststellte, unbehaglich auch die Frage, was ich mit ihr würde reden können; jedoch erkannte ich gleichzeitig, dass ich mich gerade auf diese Ungewissheit freute. Mit Francesca wollte ich mich nicht auf ein Kräftemessen einlassen, sondern sie stattdessen als Verbündete gewinnen.
    Tauchanzug, Maske, Schnorchel und gut gepflegte Flossen hatte ich immer im Wagen dabei. Dazu einige DIN-Pressluftflaschen, eine handliche Unterwasserlampe sowie den unentbehrlichen Adapter. Die Ausrüstung war minimal, aber im Moment benötigte ich keine komplizierte.
    Ich parkte neben dem Bootshaus, nahm Flossen und Maske und suchte die richtige Stelle. Inzwischen war es fast vier, aber die Sonne stand hoch. Außer einigen Touristen, die ihre Haut der Sonne aussetzten, bis sie aufgedunsen und rot war, sah ich nur wenige Leute. Ich zog mein T-Shirt über den Kopf. Unter den Jeans trug ich nur ein Bikinihöschen, sodass ich bequem in den Taucheranzug schlüpfen konnte, ein Shorty mit elastischen Halsbündchen, den ich für gewöhnlich beim Training im Schwimmbad trug. Die Maske war schon abgenutzt und dadurch erst richtig bequem. Auch die Flossen waren bereits leicht verformt. Unbeholfen stapfte ich über den Sandstein, setzte mich mit gekreuzten Beinen und möglichst aufrechtem Rücken in den Schatten. Das Wasser schimmerte in allen Farben wie in einem Aquarium. Und jenseits der Riffe war das tiefe Blau der Hochsee, auf das ich nun meine Augen richtete, während ich einige Minuten lang die Brust-, Bauch- und Lungenspitzenatmung übte. Dann ließ ich mich in das kühle, glitzernde Nass gleiten. Ich füllte meine Lungen mit Luft und schoss los. Meine Spezialdisziplin war das Streckentauchen, die sogenannte dynamische
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher