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Muschelseide

Muschelseide

Titel: Muschelseide
Autoren: Federica de Cesco
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Prolog
    W enn es wahr ist, dass die Göttin einst Maltas Inselwelt formte, dann kann es nicht sein, dass sie plötzlich verschwunden ist. Die Göttin ist immer da, sie hat viele Gesichter. Dabei sind die Bildwerke der Menschen nur ein verhüllendes Kleid und geben der Fantasie viel Spielraum. Die urtümliche Kraft zeigt sich in jeder Darstellung, wir erkennen sie wie durch Glas oder auch wie durch Wasser. Die Madonna von Marfa war die Schutzpatronin des Meeres, das ihr innewohnende Herz. Sie war in ungefähr achtzehn Metern Tiefe in einer Grotte angebracht und mit Plastikblumen geschmückt, als gebe es das Bestreben, möglichst viel Materie zu zeigen, um die Erscheinung den Menschen vertrauter zu machen. Kitsch stammt aus der realen Welt, er störte mich nicht. Und der Tauchgang war problemlos. Ich schwamm in einer Art riesiger Badewanne, bis ich eine senkrecht abfallende Steinwand erreichte. Hier ließ ich mich gemächlich fallen, immer am Felsen entlang. Die Klippen stiegen dunkel und geheimnisvoll empor, blasse Seeanemonen klebten an den Steinen. Vor der Statue, die bald in Sicht kam, flitzten silbrige Fischchen hin und her. Ich näherte mich ihr in jener Art schwebender Glückseligkeit, die unter Umständen gefährlich sein konnte. Die Luftblasen, die ich auslöste, gurgelten in meinen Ohren. Die Felsen waren von unterschiedlichem Schwarz und teilten sich in ein Gewirr von Spalten. Wie ein Traumbild trat die Steingestalt aus der Grotte hervor. Ein paar Beinschläge brachten mich näher an sie heran. Die Figur war nicht sehr groß. Ein Bein war leicht angezogen, wie es bei Darstellungen der Madonna oft vorkommt, sodass es eine schöne Linie bildete. Plankton und Mikroorganismen verwandeln Gegenstände unter Wasser, und auch die Plastikblumen verloren so jede Farbe. Die Form der Hände war plump, das geneigte Profil kaum zu erkennen, doch mir schien, dass ihre Lippen ein Lächeln andeuteten. Ich bremste meinen Schwung und sprach zu ihr im Geist das erste, was mir in den Sinn kam: »Heilige Maria, mach, dass Francesca mir nichts nachträgt!«
    Später würde ich vielleicht herausfinden, welche diffusen Befürchtungen und Vorstellungen die lautlosen Worte ausdrückten. Jetzt aber tauchte ich rasch durch die schmale, nur wenige Meter lange »Grotte des Zackenbarsches «, wo ich den Ausgang bereits als hellen Fleck wahrnahm. Ich schwamm zielstrebig und kraftvoll, ließ mich auch nicht von dem Schatten ablenken, der seitwärts über den Felsen hinweg zog. Wie ein flatternder Mantel, der sich im Wasser blähte und eine senkrecht stehende Lichtsäule erzeugte. Das bronzene Haar, das dabei empor wirbelte, mochte eine Sandwolke sein, von der Strömung getragen. Illusionen unter Wasser sind gefährlich. Zu wem gehörte dieses Profil, das heranschwebte, sich leicht verdrehte und ein glänzendes Auge zeigte, das vorüber glitt? Wo hatte ich dieses Antlitz, das sich nun wieder zurückzog, schon gesehen, und nicht nur einmal im Leben? Ich nahm die Erscheinung so hin, wie sie war, eine Woge aus geschmeidiger Bewegung, die sich im Dunkel der Tiefe mit langsamer Drehung auflöste. Der Mensch muss verrückt sein, wenn er solchen Dingen Beachtung schenkt, und ich war nicht verrückt. Es sind Gestalten und Träume, die aus dem Meeresgrund wachsen. Unerklärlich treiben sie umher, gleiten auseinander, und fort. Erscheinungen dieser Art erzeugen keinen Schrecken, aber es ist nötig, sie mit Argwohn zu betrachten. Ich schwamm schnell daran vorüber, dem Sonnenlicht entgegen. Ich tauchte aus den Wellen, holte gierig Luft. Dann fiel ich, müde und entspannt, in das glitzernd aufspritzende Wasser zurück. Kleine Schaumbläschen platzten auf meiner Haut, und mein tiefes, stetiges Atemgeräusch erfüllte mich mit Behagen.

I. Kapitel
    I m Mai kehrte Francesca aus New York zurück. Ich hatte sie nie gesehen, obwohl ich vor einigen Jahren einmal versucht hatte, sie zu treffen. Aber daraus war nichts geworden, und ich nahm es nicht tragisch. Wir hatten viele Verwandte, ich kannte längst nicht alle. Wie alt mochte Francesca jetzt sein? Neunzig, sagte mein Vater, und ich konnte es kaum glauben. Aber es stimmte. Sie hatte die Familie als Achtzehnjährige verlassen. Und seitdem war sie nie mehr nach Valletta gekommen.
    »Aber warum denn nicht?«, fragte ich.
    »Warum?«
    Er erwiderte erstaunt meinen Blick, und ich nahm seine Verlegenheit wahr. Neuerdings wollte er, dass ich ihn Ricardo nannte. Wobei ich nicht wusste, ob es ein Zugeständnis an das
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