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Muschelseide

Muschelseide

Titel: Muschelseide
Autoren: Federica de Cesco
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Apnoe, die es ermöglichte, unter Wasser eine große Distanz zurückzulegen. Ich benutzte dabei den Delfin-Beinschlag mit seinen synchronen Aufwärtsbewegungen, obwohl ich, im Gegensatz zu vielen Tauchern, mit der Monoflosse wenig anfangen konnte. Sie gab mir das Gefühl, eingeschnürt zu sein, ich hasste das. Ich schwamm abwechselnd mit nach vorn gestreckten Armen, die Hände übereinandergelegt, oder hielt sie entspannt am gestreckten Körper, um keinen unnötigen Wasserwiderstand zu erzeugen. Ich hatte ziemlich lange gebraucht, bis ich in der Lage war, die ganze Kraft aus den Hüften aufzubringen, ohne dass der Oberkörper dabei einknickte. Jetzt hatte ich den Dreh gut raus, und als ich tiefer ging, war ich recht glücklich und entspannt.
    Drei Minuten später kam ich an die Oberfläche, atemlos, aber nicht entkräftet. Eine kleine Welle wirbelte mich herum, und ich sah über mir den blauen Himmel. Was war es, was ich da unten gesehen hatte? Wasser ist unser Ursprung, aber nicht mehr unser Element. Wir sind Menschen aus Fleisch und Blut, Trugbilder sind anderen Stoffs. Taucher sind oft von ihnen umgeben. Die geheimnisvolle Maschinerie unseres Gehirns entzündet, lenkt und steigert bisweilen seltsame Empfindungen und Gedanken. Erfahrung führt dann das rechte Maß zu den Dingen herbei, lässt nicht zu, dass wir uns in Irrgärten verlieren. Wer weiß, was mit dieser Erscheinung war? Und wenn ich es wüsste, was wäre damit erreicht? Nichts Besonderes, nichts Neues. Ich wollte mich jetzt lieber mit Francesca befassen. Eine Weile lag ich ruhig auf dem Wasser, atmete tief und entspannt, bevor ich mich herumwarf und der nahen Küste entgegen schwamm.

3. Kapitel
    S ie trug Rot: Es war wie eine Kampfansage. Wir waren fast zu spät gekommen, weil ein stinkender Bus, prall gefüllt mit Touristen, die Straße versperrte. Ich fuhr, weil mein Vater seinen Führerschein abgegeben hatte. Das Flugzeug war schon gelandet. Die Abendsonne glühte, der Wind jagte Wolkenfetzen über den Himmel. Der Flughafen war klein und sehr übersichtlich. Wir standen im klimatisierten Warteraum, wo smarte Piloten und elegante Stewardessen eisgekühlte Cola und Orangensaft tranken. Es herrschte ein Kommen und Gehen von braungebrannten, lebensfrohen Menschen. Und mein Vater dagegen, wie farblos und still! Ich ging eilig voraus, er trottete hinterher, in seiner Einsamkeit gefangen. Sein Leben war leer, jeder konnte es sehen, aber niemand beachtete ihn.
    Und dann kam Francesca, schob ihren Gepäckwagen selbst. Der erste Eindruck, den ich von ihr hatte, war, dass sie auffallend war, außergewöhnlich. Alte Menschen müssen entscheiden, ob sie gesehen werden wollen oder nicht. Mein Vater zog sich zurück, wurde unscheinbar, Francesca setzte ihre neunzig Jahre hochmütig in Szene. Sie war nicht sehr groß, mit dünnem Knochenbau, ohne Bauch, ohne Busen; eigentlich war sie mehr der Schatten einer Frau, aber ein Schatten, unruhig und leuchtend, wie von Feuer umgeben. Ihre linke Hüfte war verkrüppelt – die Arthrose! –, und sie zog das Bein leicht nach. Ihr schwarz gefärbtes Haar war im Nacken zu einem Knoten geschlungen; es war so stark nach hinten gezogen, dass ihre Stirn hervortrat und die hohen Wangenknochen sich wölbten. Wahrscheinlich hatte sie sich liften lassen, und nicht nur einmal. Ihre Haut war hell, der dünne Mund geranienrot geschminkt; die Wimpern waren getuscht, die schwarzen Augen mit Lidschatten betont. Der locker gestrickte Pullover, die weiten Hosen und sogar ihre High Heels, die bei jedem Schritt klapperten, waren in verschiedenen Rottönen gehalten. Ein Umhang, lässig um die Schulter gelegt, verbarg die entstellte Hüfte. Wir gingen ihr entgegen, ich voraus, meinen Vater im Schlepptau. Dann blieb ich stehen, während er mich überholte und die Ankommende steif umarmte. Francesca ließ es geschehen, wobei sie leicht das Gesicht von ihm fortdrehte und ihre schwarzen Augen auf mich gerichtet hielt.
    »Du bist also Ricardo«, sagte sie mit einer Stimme, die rau und unverkennbar amerikanisch war. »Danke, dass du mich abholst.«
    »Wie kommt es, dass du mich gleich erkannt hast?«, fragte mein Vater ein wenig verunsichert.
    Ihre rot gefärbten Lippen zuckten.
    »Wie sollte ich nicht? Die Sforza haben alle das gleiche Gesicht. Wenn du mich genau ansiehst ... sogar ich! « Sie zeigte kurz ihre Zähne, die zwar verfärbt, aber noch ihre eigenen waren. »Wie alt bist du jetzt eigentlich, Ricardo? «
    »Vierundsiebzig«, sagte mein
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