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Muschelseide

Muschelseide

Titel: Muschelseide
Autoren: Federica de Cesco
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Stich, mit den Augen der Romantik nachempfunden, kitschig, aber nicht beängstigend. An den Wänden sah ich Aquarelle in einfachen Rahmen. Eine aggressive Irisblüte, geschwungen wie ein Dolch, zwei kämpfende Ratten, Wespen auf einer faulen Birne. Alle trugen die Signatur F. S. R.: Francesca Sforza-Richards. Die Aquarelle, schrill koloriert, zwischen Phantasie und hartem Realismus, beunruhigten. Als ob die junge Künstlerin den Betrachter herausforderte. »Ich weiß, dass ich gut male, aber die Bilder sollen nicht schön sein.«
    Tatsächlich zielten die Aquarelle auf Konfrontation, vermittelten einen Eindruck von Verwundbarkeit und Zorn. Als ich langsam im Zimmer umherging, bemerkte ich ein Foto in einem silbernen Rahmen. Fotos standen bei uns in allen Zimmern, auf den Kaminsimsen, auf den Schreibtischen, in allen Sitzecken. Die Großeltern, die Eltern und Geschwister, die Verwandten, die Gäste, die Erzieher, die Dienstboten auch. Alte Reiseerinnerungen, neue Ferienaufnahmen. Die Fotos gehörten dazu, sie waren einfach da, alltäglich und von mir unbeachtet. Aber dieses Bild auf dem Nachttisch zog meine Blicke an. Ich trat näher, nahm es behutsam in die Hand. Es zeigte ein Mädchen, dreizehn oder vierzehn Jahre alt, in einem weißen Kleid mit Matrosenkragen. Sie hatte üppige, dunkle Locken und trug ein ebenfalls weißes Band im Haar. In der Hand hielt sie einen Tennisschläger. Cecilia, dachte ich. Es gab noch andere Bilder von ihr, Gruppenaufnahmen, wo sie bloß ein Gesicht unter vielen war. Auf diesem Bild war sie deutlich zu sehen. Der Blick war eigensinnig, scharf. Der Wille, der ihr zartes Gesicht verhärtete und nahezu versteinerte, gab ihr einen Ausdruck, den meine Eltern wohl als altklug bezeichnet hätten. Beata, sei nicht altklug, hatte ich oft zu hören bekommen, wenn ich zu argumentieren begann. Und gleichzeitig war es ein liebenswertes Gesicht, unbefangen und schelmisch. Menschen auf alten Fotos merkt man stets an, dass sie einer anderen Zeit angehören, dass sie unwiderruflich diese Welt verlassen haben. Was war die Unsterblichkeit anderes als die Fähigkeit, in die Zukunft zu springen, hoch über die Köpfe der Nachkommen hinweg – platsch! – wie ein Schwimmer ins Wasser? Ich lächelte vor mich hin, als sei ich hinter einen geheimen Sinn gekommen. Nur, wenn die Kraft des Geistes sie nicht in den Raum hebt, bindet der Tod die Menschen an die Erde. Francescas Mutter war vor neunzig Jahren gestorben und vermittelte den Eindruck, als könnte sie gleich aus dem Rahmen steigen, ihr Kleid glatt streichen, die Locken schütteln und mir zulächeln.
    »Ich war eine Zeit lang fort. Da bin ich wieder!«
    Möglicherweise hatte ich sie sogar gesehen. Nein, rief ich mich fast augenblicklich zur Vernunft, hör gefälligst auf, dir das einzubilden! Wobei ich mich gleichzeitig wunderte, dass ich so wenig von ihr wusste. Weil ich zuvor mit anderem beschäftigt gewesen war, bloß deswegen? Wer war ihr Mann? Warum war von ihm niemals die Rede gewesen? War er im Krieg gefallen? Hatte er Cecilia verlassen oder sie ihn? War zwischen ihnen etwas vorgefallen? Wenn ja, was? Scheidungen kamen ja damals nicht in Frage. Der Mann ging zu den Huren. (Und später zu den Striptease-Tänzerinnen.) Die Frau, je nach Veranlagung, betete oder nahm sich einen Liebhaber. Nur Gott in seiner Milde und der Beichtvater als geistiger Tröster wussten Bescheid, und beide hielten den Mund. War womöglich Francesca, wie man damals sagte, mit dem »Makel der Unehelichkeit« geboren worden? Unsere bigotte Familie musste sauertöpfisch bestrebt gewesen sein, das Missgeschick zu vertuschen. Ricardos zugeknöpftes Verhalten ließ auf alte Hemmungen schließen, auf ein in Fleisch und Blut übergegangenes Redeverbot, auch wenn Sitte und Standeskodex ihren Griff längst gelockert hatten.
    Arme Cecilia! Sie war hundert Jahre zu früh zur Welt gekommen. Aber, sprach ich im Geist zu ihr, vielleicht hast du dein kurzes Leben gelebt, wie du wolltest?
    Du siehst wirklich nicht aus wie eine, die sich unterkriegen lässt, stellte ich anerkennend fest, als ein Lichtreflex auf das Glas fiel. Das Gesicht veränderte sich nicht, aber mir war, als ob in den dunklen Augen ein Leuchten geboren wurde. Von wer weiß woher erreichte mich ein Klang, eine Art fernes, ersticktes Gelächter. Es hörte sich hübsch an, dieser Ton, als ob man kleine Muscheln schüttelte. Es musste von draußen kommen, von der Straße. Aber unter dem Fenster lag nur der Garten, und die
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