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Muschelseide

Muschelseide

Titel: Muschelseide
Autoren: Federica de Cesco
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in den Raum traten, war die Gestalt verschwunden.

Ein Ende und ein Neuanfang
    I n dieser Nacht erwachte ich in Kazuos Armen. Ich erwachte aus einem Traum, der sehr deutlich gewesen war, konnte mich aber nicht mehr entsinnen, was ich denn eigentlich geträumt hatte. Am Abend zuvor war es spät geworden; sehr spät. Wir hatten mit Francesca, ihren Bewunderern und Kunden ein Restaurant aufgesucht. Wir hatten Ricardo gesagt, dass wir heiraten wollten. Das hatte ihn überaus gefreut; nun gab er sich zeitgemäß: Wir durften also unser Zimmer und das zukünftige Ehebett teilen. Noch war im Haus alles dunkel und still. Ich befreite mich behutsam aus Kazuos Armen und sah, dass es vier Uhr morgens war. Hassenswerte Zeitverschiebung! Ich hörte Kazuo tief und regelmäßig atmen und war glücklich, dass zumindest er schlafen konnte. Weil ich wach lag, ließ ich die Ereignisse des gestrigen Abends vorbeiziehen, stellte mir nicht zu viele Fragen, weil ich genau wusste, dass eine Antwort ausbleiben würde. Stattdessen erinnerte ich mich an die vorgefundene E-Mail aus New York.
    »Liebe Beata«, schrieb Annabel. »Das Projekt macht Fortschritte. Azur ist sich bewusst, dass man aus dem Umweltschutz Geschäfte machen kann. Die Idee wäre nun, ein Produkt zu entwickeln, das diesen Anforderungen entspricht. Mit der Muschelseide haben wir es eindeutig auf eine Kundschaft in einem ultrafeinen Nischenmarkt abgesehen. Man will nicht die Kundschaft mit einem etablierten Modeartikel ködern, sondern Frauen ansprechen, die das Preisschild einfach ignorieren können. Ich denke, das ist ein faires Geschäft, wenn eine jahrtausendealte Tradition und Kunstfertigkeit auf diese Weise am Leben erhalten werden. Doch alles steht und fällt mit Nona und damit, ob sie fähig ist, Nachfolgerinnen auszubilden. Ich habe vor, in nächster Zeit nach Malta zu kommen und mit ihr die Sache zu besprechen. Wir werden der Frau einen Vertrag vorlegen, der ihr die nötige Sicherheit gibt. Sie muss sich auch zum strikten Stillschweigen verpflichten. Ob sie die Bedingungen einhalten kann, hängt dann von ihr ab. Sie muss sich nur ganz klar im Voraus entscheiden. Aber darüber mehr, wenn ich von New York zurück bin. Wie war’s übrigens in Japan? Ich persönlich esse kein Sushi, es verursacht bei mir Nesselfieber.«
    Kazuos Kopf lag auf meinem Arm. Mein Arm schmerzte ein wenig, und ich zog ihn behutsam zurück. Und da – ganz plötzlich – kam mir der Traum in den Sinn. Jener Traum, der mich geweckt hatte. Ich hatte Mdina gesehen, die kleine, freundliche Stadt, und Nonas gepflegtes Reihenhäuschen. Und ich hatte eine junge Frau gesehen, die mit einem Rucksack von der Busstation aus die Straße heraufkam. Sie ging langsam, schwankend unter dem Gewicht. Hatte sie nicht daran gedacht, ein Taxi zu nehmen? Gewiss nicht! Die junge Frau machte einen verträumten, weltfremden Eindruck. Sie trug Jeans, einen Parka und ausgetretene Turnschuhe. Eine dicke Hornbrille verbarg ihre müden Augen. Vor Nonas Haus blieb sie stehen, vergewisserte sich, dass die Nummer mit der Adresse auf dem Umschlag, den sie in der Hand hielt, übereinstimmte. Dann stieg sie die Stufen empor, setzte ihren Rucksack mit schwerfälliger Bewegung ab und klingelte. In meinem Traum öffnete Nona die Tür fast im gleichen Augenblick. Sie blickte auf die junge Frau und lächelte.
    »Guten Tag«, hörte ich sie sagen. »Sie sind Kaori, nicht wahr? Sie kommen aus Japan?«
    Kaoris Antwort war es, die mich aus dem Traum geweckt hatte. Und ich hatte auch gesehen, wie sie dabei auf ihre Nasenspitze deutete, eine spontane, jugendliche Geste.
    »Ja, ich bin Kaori. Und ... bitte, ich möchte lernen, was Sie machen! «
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