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Muschelseide

Muschelseide

Titel: Muschelseide
Autoren: Federica de Cesco
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wurde geschlossen. Mir wurde die unaussprechliche Erkenntnis einer neuen Form der Wirklichkeit zuteil. Denn sie war jetzt in mir, Cecilia: die mystische Andere in ihrer ewigen Schönheit und Wirklichkeit.
    Inzwischen bezogen wir rasch unser Hotel, aßen einen kleinen Imbiss. Meine Kehle war vor Aufregung wie zugeschnürt. Die Großmutter erwartete uns! Eine frohe Ungeduld, eine überwältigende Fülle unmittelbarer Freude brach über uns herein. Ich fieberte der Begegnung entgegen, brachte kaum einen Bissen herunter.
    Unter Bäumen, die der Spätsommer bereits gelb gefärbt hatte, führte der Mija-Fluss dunkelgrünes, klares Wasser. Karpfen bewegten sich wie Blüten in der Strömung. Es war später Nachmittag, als wir vor einem großen, wohlgepflegten Haus standen. Eine steile Steintreppe, gleich gegenüber, führte zu einem Shinto-Heiligtum, dessen karminrote Pfosten durch Bäume schimmerten, die wie gemalt am Himmel standen.
    Im Vorgarten wuchsen runde Buchsbäumchen und liebevoll gepflegte Topfpflanzen. Wir gingen ein paar Schritte über einen gewundenen Kiesweg. Unter einer Zwergkiefer war ein abgeschliffener Steinblock in den moosigen Boden gerammt. Seine obere Fläche war ausgehöhlt und diente dazu, das Regenwasser für die Teezeremonie aufzufangen. Ein Schöpflöffel aus Bambus lag auf dem Rand.
    »Aber heute«, sagte Kazuo, »ist das Regenwasser nicht mehr sauber. Der Schöpflöffel ist nur noch Dekoration.«
    Wir stiegen zwei Steinstufen empor, kamen zu einer Glastür und klingelten. Sofort ertönten leichte Schritte. Die Tür ging auf, eine Stimme sprach Willkommensworte.
    Wie hatte ich mir Misas Großmutter vorgestellt? Irgendwie trug ich in mir das Bild einer weißhaarigen Dame, etwas gebrechlich und altmodisch gekleidet. Doch nichts entsprach der Wirklichkeit. Hiroko Kimura war schlank wie ein Junge, kleiner als ich und seltsam alterslos. Sie trug hellblaue modische Jeans, dazu ein T-Shirt, weiß und dunkelblau gestreift. Ihre Haare waren schwarz gefärbt, ihr Gesicht sorgfältig geschminkt und gepudert, sodass ich unwillkürlich an Francesca denken musste. Lebhaft erwiderte sie unsere Verbeugung, winkte uns herein. Ihre Bewegungen waren geschmeidig, ungezwungen.
    »Ich konnte es kaum abwarten! Wie schön, dass Sie da sind!«
    Hirokos Englisch war perfekt, ihre Stimme volltönend und fröhlich. Ihre Augen lächelten verschmitzt, während sie zurücktrat, leicht in die Knie ging und die üblichen Hauspantoffeln vor uns setzte. Wir ließen unsere Schuhe auf dem Steinfußboden stehen, stellten sie, wie es sich gehörte, nebeneinander, mit der Spitze zur Tür, damit wir sie später bequem wieder anziehen konnten.
    In Pantoffeln traten wir auf den blauen Spannteppich. Das Haus war groß, mit dem hohen Dachfirst und den dicken Balken. Hinter Glasscheiben lag ein kleiner Garten, sorgfältig gepflegt. Bäume, Ziersträucher und Blumen wuchsen in wohl durchdachter Unordnung. Im »Tokonoma,« in der geweihten Nische am Eingang, die in keinem traditionellen Haus fehlen durfte, hing ein schönes Rollbild, das Gräser und Herbstblumen zeigte. Eine elegant geformte Schale, in der eine Handvoll Kastanien lagen, stand davor. Das Wohnzimmer, in das uns Hiroko mit schnellen, leichten Schritten führte, war geräumig und teilweise europäisch eingerichtet, mit Sofa und Sesseln. Die Wände waren mit beiger Seidentapete bezogen, auch die Bilder zeigten europäische Landschaften; sie waren jedoch im sicheren Geschmack gehalten. Im Wohnzimmer erwartete uns Großvater Masao. Und auch er war anders, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Das Gesicht war sanft, zurückhaltend. Nur vereinzelte graue Strähnen durchzogen sein schwarzes Haar. Weil er von einer Geschäftsbesprechung kam, trug er einen dunklen Anzug und ein weißes Hemd, doch keine Krawatte. Es musste für beide, stellte ich mit einem Mal fest, ein ebenso aufregendes Erlebnis sein wie für mich. Zu den japanischen Gepflogenheiten gehört es, nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen. Bevor wir zum eigentlichen Grund unseres Hierseins kamen, unterhielten wir uns höflich über das Wetter, über die Reise und über das Hotel in Takayama, das gerade renoviert worden war, was Hiroko Zeit gab, auf einem Lacktablett Schalen mit grünem Tee und in weißes und rosa Papier gewickeltes Gebäck zu bringen. Als sie dann, etwas atemlos, im gegenüberliegenden Sessel Platz genommen hatte, eröffnete Masao das Gespräch mit der herzlichen Aufforderung, zu erzählen.
    »Wir sind sehr
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