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Muschelseide

Muschelseide

Titel: Muschelseide
Autoren: Federica de Cesco
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das Übliche. Was sagst du dazu?«
    Ich trank einen Schluck Bier, das zu dem gegrillten Aal wundervoll schmeckte.
    »Klingt verlockend. Ich an deiner Stelle würde das Angebot annehmen. Außerdem hat Azur in Tokio eine Niederlassung. Verwirklicht sich mein Projekt, wird Annabel dafür sorgen, dass ich auch hier zu tun habe. Das japanische Essen ist einfach das beste«, setzte ich mit einem wohligen Seufzer hinzu. »Ich will nicht mehr darauf verzichten müssen!«
    Da klingelte Kazuos Handy. Misa! Die Nachrichten konnten nicht besser sein: Die Großeltern wären überglücklich, uns kennenzulernen. Wann wir denn nach Takayama kommen würden?
    Kazuo sah mich an, das eingeschaltete Handy am Ohr. »Wärst du bereit, morgen in aller Frühe loszufahren?« Ich trank mein Bier aus, wischte mir den Schaum von den
    Lippen.
    »Mitten in der Nacht, wenn es sein muss. Ich kann es kaum erwarten!«
    Der » Shinkansen «, der Hochgeschwindigkeitszug, brachte uns ostwärts, den Bergen entgegen. Der Zug fuhr so weich, dass wir das enorme Tempo kaum wahrnahmen. Das eintönige Rollen wirkte einschläfernd. Die meisten Reisenden – vorwiegend Geschäftsleute – dösten oder lasen Zeitung. Draußen zog grünes Land vorbei, das sich ständig veränderte; sanfte Hügel wechselten mit schroffen Höhenrücken ab. Von Weitem sahen alle Städte fast eintönig gleich aus, aber der Eindruck täuschte. Man musste diese Städte von innen erleben, sich in den Straßen verlieren, die Tausende von bunten Kleinigkeiten wahrnehmen, die das japanische Leben so angenehm und liebenswert machten. Manchmal wuchsen Bambus- oder Kiefernwälder, während das flache Land zum Reisanbau diente. Die Felder waren regelmäßig angelegt, der Reis bildete bereits hoch aufgeschossene, grüne Lanzen. Weil es ein paar Tage zuvor stark geregnet hatte, spiegelte sich der Himmel im gelblichen Schlamm, aus dem der Reis wuchs. Am Rande dieser Felder verschwanden die älteren Holzhäuser in Obstgärten, und dann und wann schimmerte in weiter Ferne das blaue Meer. In der Großstadt Nagoya mussten wir umsteigen; der Zug, der von dort in die Berge fuhr, war altmodischer und langsamer. Zunächst aber donnerte er lange Zeit einen Flusslauf entlang, der dunkelgrün gegen weiß geschliffene Felsen brodelte. Dröhnend und scheppernd überquerte er eine Anzahl Eisenbrücken. Alle Brücken waren rot oder blau gestrichen, wie Spielzeugbrücken. Wo der Fluss ruhig wurde, sah man Männer beim Fischen, die am Ufer saßen oder stocksteif bis zur Taille im Wasser standen. Dann kamen die ersten Berge in Sicht. Der Schnee war längst geschmolzen, die Gipfel waren steinig und kahl.
    »Wir sind bald da«, sagte Kazuo.
    Takayama: eine Stadt wie aus einem Märchenbuch, mit alten oder perfekt nachgebauten Häusern und einer Fülle winziger Läden. Es war, als ob in dieser Stadt die Zeit spurlos vorbeiglitte. Die geraden Straßen waren für den Verkehr gesperrt. Nur vereinzelt fuhren Wagen vorbei, und Radfahrer – vorwiegend junge Frauen – kamen vom Einkaufen zurück. Kazuo erklärte, dass alle Balken in den dunkelbraunen Holzhäusern ohne Nägel, nur mit dicken Schnüren aus Reisstroh zusammengehalten wurden, die Jahrhunderte hielten. Diese Häuser wurden » Gassho-Zukuri « – Häuser der betenden Hände – genannt, weil die steilen Strohdächer die Form betender Hände aufwiesen, um die Schneelast zu tragen und den Regen schnell ablaufen zu lassen.
    »Takayama war eine Stadt der Handwerker, der Bierbrauer und ...« – Kazuo machte eine nachdrückliche Pause – »... der Seidenweber. In fast jedem Haus, sogar in den Herbergen, wurden Seidenraupen gezüchtet.«
    Ich stand da und schaute ihn betroffen an. Mein Blut rauschte. Mir war, als hörte ich Wellen an eine ferne Küste branden, unendliche, lange Wellen.
    »Kazuo! Warum erzählst du mir das erst jetzt?«
    Er legte zärtlich den Arm um mich.
    »Weil ich dir eine Überraschung bereiten wollte.«
    Ich schüttelte in wortloser Verblüffung den Kopf. Kazuo indessen erklärte, dass die Seidenraupen stets das obere Stockwerk bewohnten, wo sie ausreichend Licht, Luft und Wärme erhielten. Ich hörte zu, während ich gleichzeitig träumte. Es war schon so, dass Cecilia mehr gewollt hatte als ihr Leben, ihr einziges, unwiederholbares Leben. Nun lag die ganze Welt in ihrem Bann. Ein neues Geheimnis war angebrochen. Sie hatte ihr Leben mit meinem vermengt, bis sie auf geheimnisvolle Weise eins wurde mit mir. Etwas kam zur Vollendung, ein Kreis
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