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Muschelseide

Muschelseide

Titel: Muschelseide
Autoren: Federica de Cesco
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nannte. Weil ich mich schon damals für Muscheln interessierte und sie am Strand sammelte, sagte ich Großmutter, dass ich jetzt eine Pinna nobilis suchen wolle. Sie erklärte jedoch, dass diese Muschelart in japanischen Gewässern nicht vorkomme. Das Tuch aber hatte für sie eine besondere Bedeutung: Sie bewahrte es in einem Kästchen aus Weißholz auf. Es lag auf dem Familienaltar, wo sich die Gefäße aus Messing für den Totendienst und die Täfelchen mit den Namen der Verstorbenen befinden.«
    Der Atem stockte mir in einem Schauder. Ich beugte mich vor.
    »Dieses Tuch, wie sah es aus?«
    »Einmal, als ich Großmutter danach fragte, nahm sie das schmale Kästchen ehrfurchtsvoll in die Hand. Sie legte es an ihre Stirn, wie es bei heiligen Gegenständen üblich ist, und hob sehr behutsam den Deckel. Ich sah das Tuch nur dieses eine Mal. Großmutter erzählte, dass es durch ihren Onkel in die Familie gekommen war. Ursprünglich wies es Blutflecken auf. Es wurde, bevor man es in den Altarschrein legte, behutsam in Regenwasser gewaschen. Heilige Geräte dürfen nicht mit Blut in Berührung kommen.«
    Ich hörte ihre Worte übermäßig klar. Es überkam mich eine überwältigende Zärtlichkeit, ein schillerndes Seil, das aus der Tiefe der Erinnerung aufstieg.
    »Wie sah das Tuch denn aus?«, fragte ich leise.
    »Oh!«, rief Misa. »Unglaublich schön! Solche Farben habe ich nie wieder auf einem Stoff gesehen. Nur Perlmutt zeigt dieses besondere Leuchten!«
    Wortlos und mit Händen, die leicht zitterten, nahm ich das Tuch von meinem Hals, schüttelte es leicht in der Luft. Die schimmernde Seide fing das Mittagslicht auf; es war, als ob die bronzenen Muster lebten und atmeten. Durch das feine Gewebe erschien Misas Antlitz wie ein Traumbild, in diese Muster verwoben gleich einer Spiegelung im Wasser. Und dann sah ich, wie Misas Gesicht leicht erstarrte, wie eine Spur von Erschrecken um ihren Mund zuckte.
    »Ja«, flüsterte sie rau. »Es war dasselbe Tuch, mit dem halben Seestern, dort, am Rand ...« Sie wies auf die Stelle. »Großmutter sagte, das Tuch sei zerschnitten worden. Es sei eine sehr traurige Geschichte, aber sie selbst wisse wenig davon. Ihr Onkel, der das Tuch aus Europa mitbrachte, habe nur noch kurze Zeit gelebt.«
    »Wie hieß der Onkel Ihrer Großmutter?«, fragte ich, mit zugeschnürter Kehle.
    »Sein Name war Takeo Araki. Er war Chirurg auf einem Kreuzer, der im Ersten Weltkrieg im Mittelmeer zum Einsatz kam. Ein zweites Schiff, auf dem sein jüngerer Bruder Saburo Dienst tat, wurde von einem U-Boot getroffen. Saburo kam dabei ums Leben. Das Tuch gehörte ihm, und Takeo nahm es an sich. Er hatte sich im Lazarett angesteckt und starb bald nach seiner Rückkehr an Malaria. Penicillin wurde ja erst 19 28 erfunden. Jetzt blieben nur noch eine Schwester übrig, Hatsue, und der jüngste Bruder, Shinzo, mein Großvater.«
    Kazuo und ich tauschten einen überraschten Blick.
    »Mein Gott!«, rief ich. »Wenn ich bedenke, dass Francesca ihr Leben lang vergeblich Shinzo gesucht hat! «
    Jetzt war es Misa, die mich verständnislos ansah.
    »Sie wissen mehr als ich«, sagte sie. »Oh, bitte, erzählen Sie!«
    So erzählte ich dann von Cecilias Tagebuch, von Saburos Liebe zu ihr. Von der Verknüpfung ihrer Schicksale, die gewollt hatte, dass Gaetano seinen Freund zu einem Fest in seinem Eltern haus einlud, wo er Cecilia kennenlernte, die ihren Geburtstag feierte. Zufälle, die eine Kette bildeten, lose schwebend in Zeit und Raum. Es war eine Geschichte von Lachen und Weinen, von Liebe und Tod, von Mut, Treue und Ehre. Die Geschichte lebte in den Erinnerungen, in den verstörten Augen und Herzen derer, die sie gekannt hatten. Und ferner erzählte ich, wie das Kind dieser Verbindung, meine Großtante Francesca, ihre japanische Familie verzweifelt und vergeblich gesucht hatte. Und wie ihr das Leben als solches nicht mehr genügte, wie Schmerz und Zorn in ihr keimten und wuchsen, stärker, als sie gedacht hatte, und eine Künstlerin aus ihr machten. Und während ich sprach und die Worte sich von meinen Lippen lösten, schienen sie, kaum ausgesprochen, aufzuschweben und schimmernd davonzuschwimmen, ich hüllte sie in einen Hauch funkelnder Farben, etwa so wie die Muschelseide, die ihren Schimmer im wechselnden Spiel des aufgefangenen Lichtes unaufhörlich veränderte. Und die ganze Zeit, während ich erzählte, saß Misa, den Kopf auf die Brust gesenkt, bewegungslos und in tiefem Schweigen. Ihre gelenkigen Hände lagen
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