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Rosenpsychosen

Rosenpsychosen

Titel: Rosenpsychosen
Autoren: Anna-Maria Prinz
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1
    Marie unternimmt wirklich alles, um
    a) zu Geld zu kommen und
    b) Bücher wieder von vorne nach hinten zu lesen
    Die alte Lungenklinik taugte nur noch als Filmkulisse. Um Punkt acht Uhr saß Marie in weißem Kittel, weißen Hosen, mit weißen Lederimitatschuhen, weißen Socken und – man hatte das ausdrücklich verlangt – in weißer Unterwäsche auf einer der für die Komparsen bestimmten Holzbänke. Die Agentur hatte sie als Kinderärztin gebucht. Sie sah sich in dem verkommenen alten Krankenzimmer um. Der letzte Lungenkranke mochte hier vor zwanzig Jahren gestorben sein, trotzdem roch es noch danach, fand Marie. Seit Dekaden träumte Marie heimlich vom Tod, heftete ihren Blick gen Himmel, als sei er der Garant für Ruhe. Aber ihren, nun ja, letzten Atem ausgerechnet in einer Lungenklinik auszuhauchen, nein, das erschien ihr charakterlos.
    Sie belauschte die Gespräche der anderen fünfundzwanzig Komparsen. Es gab außer ihr noch zwei Ärztinnen und drei Ärzte. Der Rest musste sich damit begnügen, als Pflegepersonal oder Besucher kranker Kinder Karriere zu machen. Mit welchen von ihnen, überlegte sie, könnte man wohl ein Gespräch anfangen, wenn einem danach war (was bei ihr definitiv nicht der Fall war). Zehn schieden gleich aus, weil sie Hühner unter dreiundzwanzig waren. Weitere zehn hatten Probleme mit der Grammatik. Blieben fünf. Die nervöse, magersüchtige Ärztin neben ihr war mit ihrem Handy beschäftigt und führte Selbstgespräche. Das Nervenwrack warsehr erleichtert darüber, dass die Tochter der Freundin einer Bekannten gestern erfolgreich am Gehirn operiert worden war, und verlieh der Erkenntnis, das sei doch wohl das wahre Leben, laut Ausdruck. Marie wog selbst nur gute fünfundvierzig Kilo, aber die da wiegt nicht mehr als dreiundvierzig, dachte sie, und da hat die Tochter der Freundin der Bekannten der Anorexen ja noch Glück, wenigstens über ein Gehirn zu verfügen. Blieben vier, mit denen zu beschäftigen sich gerade nicht anbot, da frischer Kaffee und belegte Baguettes gebracht wurden.
    Jetzt hieß es schnell sein. Marie hatte einen Kater und noch nicht gefrühstückt. Sie wollte sich ein Baguette beschaffen, das noch frei war von Kleindarstellerbazillen, blieb aber erfolglos, weil ihr ihre Contenance wichtiger war. Die etikettefreien Hühner standen schon zusammen mit den Grammattos über dem Tablett und pickten, quasselten, niesten und husteten. Marie trug das obere Drittel des Kaffeebecherstapels ab, fingerte sich einen noch eingeschweißten Becher heraus und betätigte den Go!-Knopf der großen Thermoskanne. Sie setzte sich mit ihrem Kaffee wieder auf die Holzbank und fischte hochnäsig ihren Fontane aus der Handtasche, konnte sich aber nicht auf Cécile und St. Arnaud konzentrieren. Abgestürzt war sie, abgestiegen in ein zugiges Lungenklinikerdgeschoss, gefühltes Untergeschoss, wo man sich an einem Tag den Wochenendeinkauf verdienen konnte, wenn man nur verroht genug war.
    Heute würde sie fasten müssen, das zeichnete sich ab. Es gab Profis, die unter ihren Sitzen große Umhängetaschen mit Verpflegung verbargen, aus denen es verführerisch nach Vollkornbrot, Bananen und Gummibärchen roch. Man lebt eben doch vom Brot allein, dachte sie, und kein Geld zu haben ist scheiße. Hart war die Holzbank, aber fair, genau wie ihre Bank. Die grauhaarige ältere Dame gegenüber, eineKrankenbesucherin, machte einen kultivierten Eindruck, sprach aber ein zu breites Sächsisch, um als ernstzunehmende Gesprächspartnerin infrage zu kommen. Da war es ein Glück, wenn man sowieso nicht das Bedürfnis hatte, sich zu unterhalten. Blieben drei. Der Hunger wurde allmählich quälend.
    Jetzt gab es Arbeit. Die unglaublich junge, hübsche und auch noch schlaue Komparsendompteurin, die Hoffnungsträgerin schlechthin, brauchte für die erste Einstellung, eine Außenaufnahme, eine Ärztin und zwei Pfleger.
    Trotz der Sommerhitze war es kalt, grau und feucht draußen, wie immer, wenn man abgestürzt war. Marie musste zwölfmal von draußen auf den Klinikeingang zusteuern und bekam vom Regisseur die Anweisung, sich dabei nicht von dem vorfahrenden Krankenwagen überrollen zu lassen. Gekonnt steckte sie die Hände in die Kitteltaschen und ließ die Daumen herausstaksen, so wie alle Ärzte im Film. Zügig ging sie auf die Automatiktür zu – auf der Station wartete schließlich ihr kleiner Patient (der mit der für sein Alter ungewöhnlichen Herzinsuffizienz). Jetzt nur nicht laut auflachen, dachte sie,
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