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Das Blut der Unsterblichen

Das Blut der Unsterblichen

Titel: Das Blut der Unsterblichen
Autoren: Christine Saamer-Millman
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Prolog
     
    Der Tag verblasste bereits, verlor sich im Grau der hereinbrechenden Dunkelheit. Schatten huschten aus den staubigen Ecken wie lichtscheues Getier, finstere Flecken im schwindenden Licht. Kristina tastete nach dem Schalter der Nachttischlampe. Trübe Helligkeit ergoss sich über das Bett, verfing sich in den staubigen Ecken des Mobiliars. Das Licht beruhigte sie ein wenig, auch wenn es nicht die Angst vertreiben konnte, die sich wie ein Krebsgeschwür in ihr eingenistet hatte, die größer und größer wurde mit jeder Minute, die verstrich.
    Sie sah sich um. Nichts rührte sich in der staubschweren Stille des Hotelzimmers. Selbst der Uhrzeiger kroch mit boshafter Langsamkeit über das Ziffernblatt, verwandelte die Sekunden in Stunden. Wielange war Marcus schon fort? Eine Stunde? Zwei? Egal. Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit.
    Ihr Blick fiel auf die Broschüre auf dem Nachttisch. Sights of London, darunter ein Bild von der London Bridge. Sie setzte sich auf, stopfte sich ein Kissen in den Rücken und ergriff die Broschüre. Die Seiten waren abgegriffen, Eselsohren zierten die Ränder und über die Mitte zog sich ein breiter Knick. Ungeduldig begann sie, durch die Seiten zu blättern, warf flüchtige Blicke auf Bilder vom Piccadilly Circus, Big Ben, Buckingham Palast und Madame Tussaud.
    Ein altmodisches, schrilles Ringen unterbrach ihre halbherzigen Versuche, sich abzulenken. Sie fuhr herum und starrte mit klopfendem Herzen auf das Telefon. Die Broschüre sank auf ihren Schoß, als wäre sie plötzlich zu schwer, um sie zu halten. Zögernd griff sie nach dem Hörer und hob ab. „Hallo?“
    Nichts. Nur das leise Rauschen der Telefonleitung.
    „Hallo?“, fragte sie erneut. „Wer ist da?“ Ihre Stimme klang hohl, schien getragen von dem stummen Flehen um Antwort.
    Bis auf ein leises Knacken blieb die Leitung still. Ein vernünftiger Mensch würde sicher sagen, dass sich einfach jemand verwählt hatte, doch sie wusste es besser. Sie hatten sie gefunden.
    Und sie würden kommen. Waren wahrscheinlich schon auf dem Weg.
    Immer wieder war sie ihnen entwischt, doch es war von Anfang an nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sie das Glück verlassen würde. Und hier war sie nun, allein, in einer fremden Stadt, in dem schäbigen Zimmer eines billigen Motels. Niemand konnte ihr helfen. Niemand.
    Mit bebenden Händen legte sie den Hörer auf, zerrte ihr Handy aus der Hosentasche und wählte Marcus’ Telefonnummer. Die Zahlenreihe erschien ihr unendlich lang, die Tasten winzig klein, kaum zu fassen mit ihren zitternden Fingern. Warum nur hatte sie die blöde Nummer nicht einprogrammiert? Sie fluchte leise, zwang ihre Hände zur Ruhe und konzentrierte sich auf die Telefonnummer. Endlich eine Verbindung. Sie hielt den Atem an. Die Mailbox antwortete.
    „Marcus“, sagte sie, nachdem der Signalton ertönt war. „Wo bist du? Ich glaube, sie haben mich gefunden ...“
    Ein scharrendes Geräusch auf dem Flur ließ sie innehalten. Ihr Blick flog zur Tür. „Ich glaube, sie sind schon da“, stieß sie atemlos hervor. „Bitte komm schnell. Bitte.“
    Sie legte auf. Ihre Hände waren eiskalt, sämtliches Blut schien aus ihrem Körper gewichen zu sein. Eine Weile starrte sie angsterfüllt zur Tür, wartete darauf, dass jemand versuchte, sich gewaltsam Zutritt zu verschaffen. Die Minuten verstrichen. Nichts geschah.
    Sie atmete tief durch, versuchte, Mut zu fassen, bevor sie sich vom Bett schob und zur Tür schlich. Vorsichtig legte sie ihren Kopf an das glatte Holz und lauschte. Stille. Hatte sie sich geirrt?
    Sie trat zurück und schlich zum Fenster. Die Dielen knarrten unter ihren Füßen. Zögerlich schob sie den Vorhang zur Seite und erschrak vor ihrem eigenen Gesicht, das sich im Fensterglas spiegelte. Die verschwommenen Konturen glätteten die kleinen Fältchen um ihre bernsteinfarbenen Augen und die Sorgenfalten auf der Stirn, löschten die Spuren, die vierzig Lebensjahre in ihrem Gesicht hinterlassen hatten.
    Einen Augenblick lang betrachtete sie sich, suchte nach der Wahrheit in ihrer starren Miene, nach der Erkenntnis, ob sie leben würde oder sterben. Doch ihr Gesicht blieb ein bleicher, nichtssagender Fleck, umrahmt von einem ungekämmten Wust rotbrauner Haare. Mit einem abfälligen Schnauben wischte sie über ihr Spiegelbild, öffnete das Fenster, beugte sich vor und sah sich um. Keine Menschenseele weit und breit, nur Wiesen, saubere Einfamilienhäuser und heckenumsäumte Vorgärten. Eine alte Ulme wuchs
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