Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rosenpsychosen

Rosenpsychosen

Titel: Rosenpsychosen
Autoren: Anna-Maria Prinz
Vom Netzwerk:
sonst ist die Szene im Eimer.
    Als sie zurück in die Komparsenhöhle kam, schliefen einige. Die verbliebene Nummer drei, ein Arzt, schickte sich an, nach draußen zu gehen, um zu rauchen. Sie schloss sich ihm an und führte vor der Kliniktür das Gespräch, das sie vielleicht doch noch aus der heutigen Isolation herausholte. Ein alter Hase in Sachen Film. Wüsste man es nicht besser, hielte man ihn für den Produzenten, mindestens aber für den Regisseur. Dann doch lieber die Holzbank und wieder Fontane.
    Marie las sehr konzentriert fünfzig Seiten und fragte sich, wann sie zuletzt so viel am Stück gelesen hatte, noch dazu in der vom Autor vorgegebenen Reihenfolge. Es musste an diefünfundzwanzig Jahre her sein. Das letzte Buch, das sie auf Seite 1 begonnen hatte und nicht auf der letzten Seite des letzten Kapitels, war die Geschichte um Holden Caulfield. Älter als dreizehn, vierzehn konnte sie da nicht gewesen sein. Jetzt ging sie stramm auf die vierzig zu und begann zum ersten Mal wieder ein Buch ganz vorne. Sie kannte den Inhalt, denn irgendwann hatte sie es schon mal rückwärts gelesen.
    Martin hatte es ihr verordnet, das Vorwärtslesen. Sie hatte ihm versprechen müssen, zu diesem Komparsenjob ein ganz normales Buch mitzunehmen – nicht den ›Pschyrembel‹ oder das ›Köchelverzeichnis‹ – und es wie ein normaler Mensch zu lesen. Sie sollte sehen, dass das gehe, wenn sie sich nur wirklich Mühe gebe. Und es ging, ihr Mann hatte recht. Schwierig an der Sache war nur, dass Cécile jetzt nicht mehr an ihrem Platz im Bücherregal stand, sondern auf Reisen war. Eine Unordentlichkeit, die Marie ins Schwitzen brachte. Sie fand dennoch, der Tag habe sein Gutes, wenn er einem fünfzig Seiten Fontane am Stück und vorwärts gelesen abzuringen vermochte.
    Ihre Laune stieg angesichts dieses Erfolges, was sie offenbar sogleich ausstrahlte, denn Nummer zwei, eigentlich gerade gut gelaunt abgehakt, sprach sie an und stellte sich vor. Monika war im richtigen Leben Krankenschwester, weshalb sie von der Agentur auch gerne als solche gebucht wurde. Jetzt war sie im fünften Monat schwanger und durfte nicht mehr im Krankenhaus arbeiten. Bestimmt fehlt ihr die Krankenhausatmosphäre, dachte Marie. Sie wurde gefragt, was sie denn so mache. Die Antwort wollte gut überlegt sein. Sagte sie jetzt, sie gebe Klavierunterricht, käme Monika garantiert mit ihren musikalischen Erlebnissen aus der Kindergartenzeit, und Marie würde minutenlang anerkennend nicken müssen. Vielleicht würde sie Marie sogar darum bitten, ihrem Fötus Musikunterricht zu geben, man könne ja nichtfrüh genug anfangen. Um dem Gespräch gleich den Garaus zu machen, sagte Marie: nichts. Sie mache nichts und müsse jetzt mal zur Toilette.
    Es gab wieder Arbeit. Marie sollte sich auf dem Flur pantomimisch mit einem Arzt unterhalten. Diesmal also nur eine Hand im Kittel, die andere gestikulierend, nur ganz leicht, nicht so aufgesetzt. Ein Traumjob. Vor zwanzig Jahren war sie bei der Aufnahmeprüfung an der renommiertesten Schauspielschule des Landes mit Pauken und Trompeten durchgefallen und hatte nie mehr die Energie gehabt, es wieder zu versuchen. Jetzt konnte sie der Welt doch noch zeigen, was in ihr steckte. Sollte erst einmal jemand so professionell wie sie den Daumen aus dem Kittel gucken lassen und dabei die Rettung des kleinen Jungen mit der Herzinsuffizienz im Kopf haben. Ihr Vater, ein gefragter Theaterschauspieler mit Biss und Charakter, sah ohne Frage in diesem Augenblick, eine Flasche Rotwein in der Hand, von seiner Wolke herab und war entweder sehr stolz oder wurde, was wahrscheinlicher war, sehr rot.
    Es wurde zum Mittagessen gerufen. Die Komparsen sollten sich ihre Holzbänke heranholen. Die Schlepperei überließ Marie den anderen. Noch wohnte sie in einem repräsentativen, teuren Haus. Noch benutzte sie jeden Morgen Chanel N°5. Nicht mehr lange, dann würde der Flakon leer sein, aber heute noch nicht. Noch spuckte ihr überdimensionaler Kleiderschrank jeden Morgen eine Garnitur frischer Wolford-Unterwäsche aus, und es gab keinen Grund, sich für den Fall, dass sie auf dem Heimweg den Folgen eines Verkehrsunfalls erläge, in der Pathologie zu schämen. Noch konnte sie bei ALDI, pelzgewandet und mit drei Kreditkarten in der Tasche, so tun, als habe sie sich im Laden geirrt. Noch sah man, wenn auch mit der Lupe, eine Pfütze auf dem Grund des Glases. Und noch schleppte sie, bitteschön, keine Holzbänke.
    Es gab Gammel ohne Fleisch –
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher