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Muschelseide

Muschelseide

Titel: Muschelseide
Autoren: Federica de Cesco
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und Misa gab um zwei Uhr wieder Unterricht. Sie kannte ein kleines Restaurant, ganz in der Nähe, wo wir schnell und gut bedient wurden. Was hatten wir gegessen, getrunken? Ich weiß es nicht mehr. Wir hatten uns so viel zu sagen! Wir hatten uns ja eben erst kennengelernt. Vor unseren Schalen, in denen eine köstliche Nudelsuppe dampfte, sprachen wir leise, schnell und voller Zuneigung miteinander. Wir sprachen nicht nur mit den Lippen, sondern mit den Augen, mit dem Herzen, mit dem ganzen Wesen. Weil wir Menschen waren, die sich gefunden hatten.
    Und als wir uns beim Abschied lange und innig umarmten, sagte Misa abschließend:
    »Es gibt keine Zufälle, glaub das ja nicht. Es gibt etwas Unentrinnbares, das uns sicher auf den richtigen Pfad leitet. Dass wir beide Taucherinnen sind, hat gewiss einen Grund.«
    »Du meinst ... eine Art genetische Programmierung?«
    Sie kniff die Augen in leichtem Spott zusammen, doch ihre Stimme klang ernst.
    »Irgendetwas in dieser Art, ja. Auch wenn unser Schicksal schon im Voraus feststeht, dürfen wir uns nicht auf irgendwelche Wunder verlassen. Wir müssen sie aus dem eigenen Herzen hervorbringen. Dann werden sie wahr.«

36. Kapitel
    A m nächsten Morgen ging ich mit Kazuo zur Redaktion, wo uns sein Partner erwartete. Das Büro befand sich an der
    Ginza, einem der großen Einkaufszentren in einer Nebenstraße. Ganz in der Nähe donnerten U-Bahnen auf einer Eisenbrücke über unsere Köpfe hinweg. Ein Aufzug brachte uns in die vierte Etage. In dem vollgestopften Großraumbüro standen die Schreibtische in Gruppen zusammen. Gut zehn Leute, Frauen und Männer, arbeiteten hier. Fast alle saßen vor Computerterminals. Sie warfen mir Seitenblicke zu, grüßten mit höflichem Kopfneigen. Von der U-Bahn hörte man nichts, alle Fenster waren schalldicht. Hiroshi Teshigawa, der eigentliche Inhaber der Zeitschrift, war Ende vierzig und untersetzt, lässig und elegant in Dunkelblau gekleidet. Er hatte Augenbrauen wie ein Faun und lustige Augen hinter einer runden Brille, die er – wie ich bald merkte – als modisches Accessoire trug. Herr Teshigawa sprach ein schnelles, amerikanisch gefärbtes Englisch. Er führte uns in ein halbprivates Büro hinter einer dünnen Wand aus Plexiglas, ein junger Mitarbeiter brachte Tee, und Kazuo erzählte von seinem Unfall in den Gewässern von Gozo und dass er mir sein Leben verdanke. Teshigawa zeigte ein lebhaftes Mienenspiel, stieß Laute der Bestürzung und Anerkennung aus. Ich gestand, dass ich es war, die Kazuo in diese gefährliche Lage gebracht hatte, und versprach, es nie wieder zu tun.
    »Ach, das wäre ja auch zu entsetzlich!«, rief Teshigawa, halb betroffen, halb bewundernd für meine Kaltblütigkeit. »Sie würden unsere Zeitschrift um einen wesentlichen Mitarbeiter bringen!«
    Für beide Männer gab es viel zu besprechen. Ich ließ sie allein, fuhr mit dem Aufzug nach unten und bummelte durch die Straßen voller Menschen. Tokio schimmerte in Glanz und Sauberkeit und weltstädtischem Flair. In Valletta bewahrte man das Alte, das Bleibende. Die Schnörkellast vergangener Epochen wurde restauriert und gehütet. Tokio erlebte eine ganz andere Geschichte. Es machte Spaß, hier zu sein. Auch die Menschen hielten wenig von schnodderiger Lässigkeit. Fast jede Frau, jeder Mann, war eine elegante Erscheinung. Makellose Outfits gehörten zum Straßenbild, Make-up, Schuhe, teure Markentaschen, alles passte. Nicht in London, nicht in New York, sondern hier in Tokio wurden die Trends geboren, die morgen bestimmend sein würden. Noch war ich jung genug, um da von gefesselt zu sein. Ich brauchte sie auch, diese Spannung, diese Geschäftigkeit; zwei Welten, zwei Lebensarten zu verbinden, war das Gegenteil von Routine. Ich mochte Tokio sehr.
    »Würde es dir gefallen, ein paar Monate im Jahr hier zu leben?«, fragte Kazuo, als wir uns zur abgemachten Zeit wieder trafen. Wir saßen an der Theke, in einem gemütlichen Restaurant in einer Seitenstraße, aßen die Spezialität des Hauses: »Unagi«, in Sojasauce und Karamellzucker gegrillter Aal, der wie eine Süßigkeit auf der Zunge schmolz. Ich sagte:
    »Es kann ja sein, dass ich schizophren bin, aber ich habe den ganzen Morgen daran gedacht, dass es mir wohl gefallen würde. Warum fragst du? «
    »Weil Hiroshi nicht ganz auf meine Präsenz hier verzichten will. Er möchte mit mir eine Abmachung treffen: acht Monate Valletta, Computerarbeit und Reisen und vier Monate Tokio, Redaktionsarbeit, Übersetzungen,
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