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Muschelseide

Muschelseide

Titel: Muschelseide
Autoren: Federica de Cesco
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Eingangshalle. Auch hier strömten die Studenten lärmend die Stufen hinunter, stauten sich vor den Mitteilungstafeln. Einige ältere Damen saßen hinter Schaltern wie in einer Bank. Eine verließ ihren Arbeitstisch und verbeugte sich freundlich vor uns. Kazuo nannte unsere Namen und sagte, dass Kimurasan uns erwartete. Die Dame schaute in ihren Computer und bat uns um einen Augenblick Geduld. Sie griff nach dem Telefon, drückte auf einen Knopf. Wir brauchten nicht lange zu warten. Schon kam eine junge Frau die Treppe herab und auf uns zu, wobei das leuchtend braune Haar auf ihre Schultern wippte. Sie trug elegante weite Hosen und eine weiße Hemdbluse. Ich spürte mein Herz heftig klopfen. Misa Kimura musste bereits vierzig sein, sah aber wie eine Studentin aus: klein von Gestalt, beweglich und voller sprühender Energie. Sie hatte ein ovales Gesicht, in das der Mund geschnitten war wie eine Frucht. Die Brauen waren flaumig, die Augen mandelförmig und von einem vergoldeten Braun.
    Wir begrüßten uns und tauschten – wie es nicht nur in Japan geschäftsüblich ist – die Visitenkarten. Misas Augen richteten sich, während sie uns in ihr Büro führte, immer wieder auf mich. Sie musterte mich intensiv, aber auch warmherzig und etwas befangen. Sie sprach ein müheloses, perfektes Englisch. Ihre Stimme hatte einen tiefen Klang, so wie ein ganz gleichmäßiger, dunkler Glockenton.
    »Wann sind Sie angekommen?«, erkundigte sie sich. »Gestern Morgen«, sagte ich. »Danke, dass Sie uns so kurzfristig empfangen.«
    Sie antwortete mit lebhafter Geste.
    »Oh, keine Ursache, ich war sehr neugierig. Um die Wahrheit zu sagen, habe ich in dieser Nacht kaum ein Auge zugetan. Diese Sache ist so aufregend für mich. Sie sind Forscherin bei Azur, nicht wahr?«
    »Ja, ich bin Streckentaucherin mit oder ohne Flossen. Aber ich gehe auch gern tiefer, so lange es angenehm ist. Rekorde versuche ich nicht mehr zu brechen. Sie tauchen auch, nicht wahr?«
    Sie lachte fröhlich.
    »Ich fürchte, nicht so gut wie Sie. Ich tauche mit Schnorchel und Maske. Ich sammle Muscheln, wie Sie wissen.«
    »Ja, das habe ich in Ihrer E-Mail gelesen.«
    Sie führte uns in ihr Büro, einen länglichen Raum, vollgestopft mit Computern. An den Wänden hingen Hochglanzabzüge von Unterwasserbildern, daneben jede Menge lose geheftete Notizzettel und Stundenpläne. Sofa und Sessel waren schlicht und grau gehalten. Auf dem gläsernen Tisch lagen Computermagazine. Ein junger Mann trat herein, brachte drei Schalen mit heißem, grünem Tee und zog sich mit höflicher Verbeugung wieder zurück. Die Monitore waren eingeschaltet; Muster, Kreisläufe und Wirbelbildungen bewegten sich in fluoreszierenden Farben. Ich sah auf den ersten Blick, dass diese Formen keine wirklichen Wasserwesen zeigten, obwohl sie hin und her schwangen, pulsierten und zu leben schienen. Ich warf Misa einen fragenden Blick zu. Sie verstand sofort und lächelte.
    »Nein, es sind keine richtigen Quallen und Muscheln. Ich habe alle erfunden.«
    »Sie beobachten gut«, stellte ich fest. »Jede Bewegung stimmt.«
    Sie zeigte keine falsche Bescheidenheit, nur ruhiges Selbstbewusstsein.
    »Ich hole meine Bildimpulse unter Wasser. Computergrafiken entstehen aus Diagrammen. Was mich fasziniert, ist der Brückenschlag zwischen nüchternen Berechnungen und Gefühlen. Aber Kreativität ist letzten Endes reine Willkür und lässt unserem Geist viel Spielraum. Hier arbeite ich für mich. Den Unterrichtsraum zeige ich Ihnen später, wenn Sie Lust haben. Aber zunächst müssen wir reden, ja?«
    Ihre Augen, die scharf und von schönstem Gold waren, blickten jetzt Kazuo an, der ihr Lächeln etwas zaghaft erwiderte.
    »Umstände haben dazu geführt, dass ich vor einer wirklich schwierigen Aufgabe stand. Es ging darum, eine Verbindung aufzunehmen, die seit nahezu einem Jahrhundert abgebrochen war. Als Japaner war ich der Einzige, der es versuchen konnte.«
    »Pinna nobilis.« Misa nickte mit ernstem Gesicht. »Der Name weckte eine Erinnerung in mir. Ich ging sofort ins Internet, besah mir die Muschel, die ja im Grunde überhaupt nicht schön ist. Ich wurde dabei immer aufgeregter, weil ich die Pinna nobilis mit einem Gegenstand in Zusammenhang brachte, den ich einst bei meiner Großmutter gesehen hatte und den sie wie ihren Augapfel hütete: ein Tuch, von dem sie behauptete, es sei aus der Seide einer Muschel gewebt. Es hörte sich wie ein Märchen an, und Pinna nobilis war genau der Name, den die Großmutter
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