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Muschelseide

Muschelseide

Titel: Muschelseide
Autoren: Federica de Cesco
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Schale verbergen wollte. Sie war gewiss kein Schulmädchen mehr, obwohl sie sehr jung aussah. Wie alt mochte sie sein? Ich schätzte sie auf zwanzig. Sie trug Jeans, ein braunes T-Shirt und eine Hornbrille. Ihr Haar war lang, kräftig und gelockt, mit einem kastanienbraunen Schimmer. Man konnte sie nicht als hübsch bezeichnen, aber die Art, mit der das Mienenspiel auf ihrem gebräunten Gesicht wechselte, war sehr anziehend.
    Großmutter indessen sprach munter weiter.
    »Seit dem Frühling hat Kaori die Hochschule abgebrochen und muss sich Gedanken über einen Beruf machen, nicht wahr?« Kaori nickte unwillkürlich, und Hiroko fuhr fort:
    »Nun, sie denkt jetzt mal darüber nach, und inzwischen hilft sie mir ein wenig im Haushalt und im Garten. Sie geht geschickt mit Blumen, Tieren und kleinen Kindern um, sie fertigt wundervolle Handarbeiten an, aber was macht eine junge Frau, die keinen Schulabschluss hat?« Kaori krümmte den Rücken, und Hiroko lächelte voller Nachsicht. »Im heutigen Japan mag das vielleicht hinderlich sein, aber ihre Eltern haben großes Verständnis für sie, nicht wahr, Kaori-Chan? Arbeiten die Hände, kann der Kopf gut nachdenken, so ist es doch, oder?«
    Kaori blieb stumm, nickte nur mit verwirrtem Ausdruck. Ich lächelte ihr zu und bekam als Antwort ein scheues, verkrampftes Lächeln. Der Großvater, der bisher nicht viel gesagt hatte, sprach jetzt japanisch zu ihr, erklärte ihr offenbar den Grund unseres Hierseins. Kaoris dunkle Augen flackerten hin und her und richteten sich schließlich auf ein Möbel, das im Hintergrund des Raumes stand und das ich bisher kaum wahrgenommen hatte. Ich wusste von Kazuo, dass fast jedes japanische Heim auch in der heutigen Zeit zwei Altäre hatte: einen einfachen Shinto-Holzaltar zur Ehren der Sonnengöttin, mit immergrünen Sakakizweigen geschmückt, und einen größeren, üppig vergoldeten und gelackten buddhistischen Altar für die Verehrung der Ahnen und den Totendienst. Immer am Todestag der Verstorbenen brannten dort Kerzen, und Weihrauch kräuselte sich durch das Schnitzwerk des Pappelholzschreins. Dieser Schrein war als Aufbewahrungsort für buddhistische Schriften, für die hölzernen Totentäfelchen und die Fotos der Verstorbenen vorgesehen, für alle Gegenstände eben, die im Leben einer Familie von Bedeutung waren. Doch nun schien Großvater etwas Besonderes gesagt zu haben, denn wieder deutete Kaori eine Bewegung an, als ob sie sich unverzüglich aus dem Staub machen wollte. Und wieder hinderte sie Hiroko daran, indem sie sanft ihre Hand auf das Knie der jungen Frau legte.
    »Nein, Kaori-Chan soll hierbleiben. Sie gehört zur Familie, ihre Mutter ist ja meine Kusine.«
    Sie ging zum Altar, öffnete die geschnitzten Schreintüren. Eine Anzahl Familienfotos kam zum Vorschein. Kazuo und ich traten schweigend näher. Großmutter nahm ein Bild heraus, das in einem versilberten Rahmen stand. Das alte Bild wies die übliche Sepiafärbung auf und war ziemlich unscharf. Es zeigte zwei Männer, der eine jünger, der andere älter, beide in Marineuniform, und einen Jungen, noch als Schüler gekleidet. Ihr Ausdruck war starr, wie es damals die Konvention erforderte, und auch die Haltung war steif, aber die Gesichter waren lebensfroh, sensibel. Hätte ein Lächeln sie bewegt, wären es Gesichter von heute gewesen.
    »Takeo und Saburo«, sagte Hiroko halblaut. »Es war das letzte Bild, das von ihnen aufgenommen wurde. Der Junge ist Shinzo, mein Vater.«
    Ich nickte wortlos, mit einem Kloß im Hals, und Kazuo gab ihr stumm das Bild zurück. Doch nun nahm Hiroko mit ehrfürchtigen Händen ein Kästchen aus Pappelholz hervor. Es war kaum handtellerbreit, länglich, und das Holz war glatt wie Seide. Behutsam hob Hiroko den Deckel, entfaltete das Tuch, das nun zum Vorschein kam. Da wehte der Schal empor, wie von einem Luftzug gehoben, schimmerte in Kupfer, Rosa und Bronze, wobei die eingewobenen Muster im Gegenlicht wie in transparenten Gewässern schwebten. Mein Blick richtete sich auf den Seestern am Rand, der unvollständig war, bevor ich mit leichten, geübten Gesten mein eigenes Tuch löste. Während Hiroko und ich beide Enden des Tuches hielten, legte Kazuo die Ränder aneinander, sodass der halbierte Seestern zu einem einzigen wurde, genau in der Mitte, und das Tuch in voller Länge die Magie seiner Farben entfaltete. Seide aus der Luft, Seide aus dem Wasser! Hier in diesem Haus, das einst von dem leisen Rascheln der Seidenraupen erfüllt worden war,
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