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Muschelseide

Muschelseide

Titel: Muschelseide
Autoren: Federica de Cesco
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Ricardos Teller, bevor ich das Schweigen brach.
    »Ich würde mich eigentlich freuen, sie zu sehen. Wie alt warst du, als sie ging?«
    »Das war vor dem Zweiten Weltkrieg. Ich war noch klein, vier Jahre alt. «
    »Erinnerst du dich an sie? «
    »Ein wenig.«
    »Ihre Mutter hieß Cecilia, nicht wahr?«
    »Tante Cecilia habe ich nie gekannt. Sie starb 1917, als Francesca auf die Welt kam.«
    »Ich finde das entsetzlich. So jung!«
    »Jung aus deiner Sicht«, antwortete er. »Damals hatte eine Frau dieses Alters oft schon Kinder. Und manch eine starb im Kindbett. So war das eben.«
    Sein Gehirn hatte keinen Schaden genommen, nur das leichte Zittern seiner Hände würde bleiben. Er begrüßte jeden mit Namen, verwechselte keinen. Er spielte Schach, sah fern, las Zeitungen in verschiedenen Sprachen. Dr. Lewis war sehr zufrieden mit ihm. Kürzlich hatte er zu mir gesagt:
    »Es ist gut, dass Sie da sind. Spielen Sie eigentlich Tennis?« »Ziemlich schlecht, tut mir leid.«
    »Das macht nichts. Sie sollten jetzt etwas Tennis mit ihm spielen. Er braucht frische Luft. Spaziergänge liebt er ja offenbar nicht.«
    »Er hasst sie.«
    »Frühmorgens, wenn es noch nicht zu warm ist, wäre es ideal. Fällt es Ihnen eigentlich schwer, bei ihm zu bleiben?«
    Ich hatte erwidert: »Nicht im Geringsten«, ohne das Gefühl zu haben, dass ich log.
    Ich war die einzige Tochter, daran wurde ich hier immer wieder erinnert, auch wenn mein Beruf mir Freiräume bot. Sogar Affären waren heutzutage keine Schande mehr, die man züchtig verbarg; man redete nur wenig darüber. Heuchelei gehörte schon dazu. Über das, was mein Vater davon hielt, machte ich mir keine Illusionen. Ohnehin fuhr ich ja ständig in der Welt herum. Dann gab es noch Georges, meinen allzu cleveren Bruder, in maßgeschneiderte Anzüge und diskrete Krawatten eingezwängt. Er lebte mit seiner Frau Alice in London, war Bankkaufmann bei der Lloyds, steckte mitten in einer Karriere, so vielversprechend und steil, dass er daneben nur noch an das eine denken konnte, nämlich daran, wie man Söhne in die Welt setzt. Ihrer hatte er inzwischen drei. Schnatternde kleine Ungeheuer, trippelnd, strampelnd und schreiend, die meines Vaters Geduld gehörig auf die Probe stellten. Ich war froh, sie nicht um mich herum ertragen zu müssen.
    Nun also Francesca. Weshalb gerade jetzt? Wir hatten ihr natürlich eine Anzeige geschickt, deswegen vielleicht. Viel Zeit blieb ihr ohnehin nicht mehr. Du lieber Himmel, sie war neunzig! Ich wusste nicht, woran es lag, dass sie sich derart abgeschottet hatte. Ich hatte mir selten Gedanken über sie gemacht. Sie lebte in den Staaten, und Punkt. Ich hatte auch Verwandte, die in Südafrika lebten.
    Die Leber war zu hart gebraten. Ich schob sie an den Rand des Tellers und nahm mir vor, es Domenica zu sagen. Ricardo aß mit Widerwillen ein paar Bissen. Während wir lustlos Spinat und Kartoffeln verspeisten, blickte Francesca uns an. Genau genommen war es ihr Porträt, das auf uns hinab sah. Mir war bekannt, dass Francesca damals einen ihrer üblichen Skandale produziert hatte, als sie sich wie ein Filmstar porträtieren ließ, in rotem Bustierkleid, die Schultern nackt. Dazu trug sie Handschuhe, lang bis zum Ellbogen und ebenfalls rot, und hielt eine Zigarette. Ich fand das Bild schön, es drückte so viel Lebenskraft aus. Die nackten Schultern waren breit, der Hals war lang und graziös, und sie trug den Kopf sehr hoch. Das schwarze Haar war über der Stirn zu einer Art Rolle eingeschlagen, in der eine Spange steckte. Die Brauen waren über der Nase dicht zusammengewachsen, der Mund knallrot bemalt. Ich hatte selten ein Gesicht gesehen, das so viel Herausforderung und Kühnheit zeigte. Wie eine Piratin kam sie mir vor. Ich fühlte mich ihr auf einmal sehr nahe.
    Sie musste sich in diesem Haus in der St. Dominik Street sehr fremd gefühlt haben. Sie hatte die Freiheit gewählt, lange bevor auch ich meinen eigenständigen Weg ging. Aber bei mir war alles ganz anders gewesen, ich hatte nicht für nichts und wieder nichts rebellieren müssen. Schon als Schulkind war ich mit Leidenschaft geschwommen, zuerst im Schwimmbecken meiner italienischen Großeltern, dann im Meer. Zwischen sechzehn und zwanzig, in dem Alter, in dem Jugendliche am kräftigsten sind, hatte ich an Wettschwimmen teilgenommen und Pokale gewonnen. Die Eltern sahen es gern. Sie fanden es auch gut, dass ich in Monaco Meeresbiologie studieren wollte. Aber statt wie es sich gehörte bei Verwandten zu
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