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Muckefuck

Muckefuck

Titel: Muckefuck
Autoren: Georg Lentz
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teilzunehmen. Millie war, am letzten Kriegstag, von den Russen geschnappt worden, nur fünfzig Meter von seiner Wohnung entfernt, in der jetzt übrigens andere Leute wohnten, Fremde, die Millie das Wohnrecht streitig machten. Millie war in einem Lager bei Frankfurt/Oder gelandet, aber schnell wieder freigekommen. Als Folge eines früheren Berufsunfalls – Sturz beim Galopprennen – konnte er einen schlecht zusammengewachsenen Schlüsselbeinbruch vorweisen, was zu seiner Entlassung führte. Millie ging, einem inneren Zwang folgend, von Frankfurt/Oder nach Frankfurt/Main, wo er sich bei Amerikanern verdingte. Von hier an wurde seine Geschichte dunkel.
    Millie wäre vielleicht ewig auf dem Feldbett geblieben, wenn Großmutter nicht gestorben wäre.
    »Mir ist so schwindelig, ich will mich mal ein bisschen hinlegen«, sagte Großmutter eines Nachmittags. Dann zog sie sich ins Schlafzimmer zurück. Zwei Stunden später gingMinnamartha nach ihr schauen. Wir hörten einen spitzen Schrei, ich lief Minnamartha nach. Großmutter war tot. Die runde Brille war ihr von der Nase gerutscht. »Gerade jetzt stirbt sie, wo noch so viel vom Schwein übrig ist«, sagte Minnamartha.
    Millie zog es vor, die Tote nicht anzusehen. »Ich muss fort«, sagte er. Das Feldbett mit seinen unordentlichen Decken blieb an der Wand stehen, Millie, im Regenmantel, verduftete.
    Glücklicherweise gab es einen alten Freund Edes, der ein Bestattungsinstitut besaß. Am nächsten Tag wurde, gegen schlechtes Geld und ein paar erstklassige Würste, ein Sarg geliefert. Die übrig gebliebenen Bewohner der Laubenkolonie liefen zusammen, als man Großmutter aus der Laube trug. Eine Grabstelle war längst vorgesehen, neben Onkel Adolar. Aber Adolars Witwe, Tante Linchen, machte zwei Tage vor der Beerdigung Großmutter den Platz streitig. Sie wolle einst, sagte sie, selbst neben Adolar ruhen. So musste in aller Eile eine neue Grabstätte ausfindig gemacht werden, es war eine sehr schöne, unter Birken, die in diesem Herbst lange ihr buntes Laub behielten.
    In der Kapelle saßen wir dann, Laubenmenschen in zusammengestoppeltem Schwarz, mit dem Mottenpulvergeruch. Tante Linchen setzte sich abseits und schmollte. »… und wenn es viel ist, so sind es siebzig Jahre«, sagte der Pfarrer tröstend. Großmutter hatte es auf vierundachtzig gebracht. Die Tür ging noch einmal auf, Millie kam herein, immer noch im US-Mantel, dessen Saum dem kleinen Reiter fast bis zu den Füßen reichte. Im Arm trug Millie einen riesigen, prächtigen Blumenstrauß in Cellophan, das laut raschelte, sodass der Pfarrer seine Stimme erheben musste.
    Auch Millie setzte sich abseits, aber auf die Tante Linchen entgegengesetzte Seite. Orgelmusik. Mathilde saß neben Onkel Hubert in der vordersten Reihe. Ihre unwahrscheinlich lockeren Brüste hoben und senkten sich und verformten sich dabei: Rund und wieder flach, rund und flach, rund und flach …
    Wir standen alle auf und folgten dem Sarg, der auf einem Wägelchen von Friedhofsdienern aus der Kapelle geschoben wurde. Ich ging neben Millie und Tante Linchen, den kleinsten Teilnehmern an Großmutters Beerdigung, und beide mit der Familie auf Kriegsfuß, falls dieses Wort so nahe an Weltkrieg zwei noch erlaubt war. Millie zwinkerte mir zu, was ich übersah. Linchen reckte die Nase ganz hoch, ein zweckloses Unternehmen, wenn man nicht größer als eins sechzig ist.
    In gemessenem Schritt bewegten wir uns über den Friedhof, bis zur Grabstelle. Wieder war hellgelber märkischer Sand hoch auf den Weg gehäuft, wieder nisteten sich die wichtigsten Mitglieder der Trauergesellschaft, vor allem Minnamartha, auf dem Gipfel dieses Sandgebirges ein. Wieder schien warm die Sonne, erstaunlich so spät im Herbst, und das Birkenlaub leuchtete. Aber der Sand war nass und klumpig und kalt.
    Der Sarg mit Großmutter, die noch so viel Schweinernes hätte essen können, wurde hinabgelassen. »Von Erde bist du …«, murmelte der Pfarrer. Niemand schoss Salut. Es war ja wieder Frieden, oder wenigstens Waffenstillstand, und Großmutter war keinen Heldentod gestorben. Sie hatte Kinder, Enkel, Hühner, Schweine, Enten, Katzen großgezogen. Eine Familie ernährt in schlimmsten Notzeiten. War immer für alle dagewesen.
    Wieder defilierte die Trauergesellschaft an den Hauptleidtragenden vorbei, auch Millie, der seine Blumen des Cellophans beraubte und sie neben dem Grab niederlegte. Der mir noch einmal zuzwinkerte, Minnamartha die Handschüttelte. Hinter ihm Tante Linchen,
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