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Mein feuriges Herz

Mein feuriges Herz

Titel: Mein feuriges Herz
Autoren: Martin Kat
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1. KAPITEL
    London, England
    Januar 1844
    Kalter Nieselregen hing wie ein grauer Schleier über dem Friedhof, die Grabsteine ragten dunkel und mahnend aus dem Schatten der Kirchmauern von St. Michael.
    Schwarz gewandet, das Gesicht unter einem breitrandigen Hut mit Trauerflor verborgen, stand Coralee Whitmore neben ihren Eltern, dem Viscount of Selkirk und seiner Gemahlin, und lauschte der leiernden Grabrede des Bischofs, ohne ein Wort davon zu erfassen.
    Im Sarg neben dem aufgeschütteten feuchten Erdhügel lag ihre Schwester, die vor zwei Tagen kalt und bleich aus den eisigen Wassern des Avon Rivers geborgen worden war, laut Aussagen der Konstabler ein Selbstmordopfer. Laurel Whitmore, hieß es im Polizeibericht, sei ins Wasser gegangen, um sich das Leben zu nehmen.
    „Du zitterst ja.“ Ein Windstoß fuhr in die kupferrote Mähne des hochgewachsenen, Achtung gebietenden Viscounts. „Die Trauerfeier ist zu Ende. Komm, wir fahren nach Hause.“
    Tränenblind starrte Corrie auf den Sarg im offenen Grab und warf eine langstielige weiße Rose hinunter. Ihre Beine fühlten sich taub an unter den schweren schwarzen Röcken, der Schleier flatterte im kalten Februarwind.
    „Ich glaube es nicht“, flüsterte sie an ihre tote Halbschwester gerichtet. „Ich glaube es einfach nicht.“ Sie schluckte gegen den schmerzhaften Knoten an, der ihr die Kehle zuschnürte. „Adieu, liebste Schwester. Du wirst mir sehr fehlen.“ Dann wandte sie sich ihren Eltern zu.
    Laurels Mutter war im Kindbett verstorben. Der Viscount hatte wieder geheiratet, und Corrie wurde ein Jahr später geboren. Die Halbschwestern waren gemeinsam aufgewachsen und hatten sich sehr nahegestanden. Seit einigen Jahren arbeitete Corrie als Gesellschaftskolumnistin für die Londoner Frauenzeitschrift Heart to Heart , eine Aufgabe, der sie sich von ganzem Herzen widmete und die ihre Zeit völlig in Anspruch nahm.
    Laurel, die das beschauliche Landleben schon immer geliebt hatte, war zu ihrer Tante Agnes nach Selkirk Hall gezogen, dem Landsitz der Whitmores in Wiltshire. Die Schwestern hatten sich nicht mehr oft gesehen, einander allerdings häufig geschrieben. Erst im letzten Jahr war auch die Korrespondenz spärlicher geworden.
    Wenn ich nur die Zeit zurückdrehen könnte, dachte Corrie verzweifelt. Wäre ich nur bei dir gewesen, als du mich gebraucht hast.
    Aber sie war so sehr eingebunden in gesellschaftliche Verpflichtungen, hatte ständig Bälle und Abendgesellschaften besucht, über die sie in ihrer Kolumne schrieb, kurzum, sie war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um zu erkennen, dass Laurel in Nöten war.
    Und nun lebte ihre Schwester nicht mehr.
    „Wie fühlst du dich, Coralee?“ Als sie die Stimme ihrer besten Freundin hörte, drehte sie sich um. Krista Hart Draugr durchquerte den blauen Salon der Villa am Grosvenor Square, wo die Whitmores wohnten. Die blassblauen Damastdraperien waren schwarz verhangen, ebenso das Brokatsofa und die zierlich geschwungenen Hepplewhite-Stühle.
    Corrie wischte sich unter dem Schleier die Tränen von den Wangen. „Ich komme darüber hinweg. Aber sie fehlt mir so sehr, und ich fühle mich … verantwortlich für ihren Tod.“
    Die Trauergäste, eine begrenzte Anzahl in Anbetracht der tragischen Umstände von Laurels Tod, hielten sich im großen Salon auf, einem eleganten, weitläufigen Raum, in Gold und Umbratönen gehalten, mit zwei mannshohen Marmorkaminen an jeder Stirnseite. Ein üppiges Buffet war dort aufgebaut. Corrie wollte lieber allein sein, denn sie hätte ohnehin keinen Bissen hinuntergebracht.
    „Dich trifft keine Schuld, Coralee. Du konntest doch nicht ahnen, dass Laurel Kummer hatte.“ Die blonde, hochgewachsene Krista überragte beinahe alle Herren, nur nicht ihren Gemahl Leif, einen flachsblonden Hünen, neben dem seine Frau beinahe zierlich wirkte.
    Leif, ein umwerfend gut aussehender Mann, unterhielt sich am entfernten Ende des Salons mit seinem Bruder Thor, der dunkelhaarig und beinahe ebenso groß war wie er und nicht minder attraktiv.
    „Ich hätte Verdacht schöpfen müssen, als ihre Briefe knapper und seltener wurden“, sagte Corrie. „Ich hätte wissen müssen, dass etwas nicht stimmte.“
    „Sie war dreiundzwanzig, Coralee, zwei Jahre älter als du, eine erwachsene und ausgesprochen selbstständige Frau. Wenn ich mich recht entsinne, schrieb sie dir auch aus Norfolk.“
    Letzten Sommer war Laurel nach East Dereham in Norfolk gereist, um einige Monate bei ihrer anderen Tante Gladys
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