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Muckefuck

Muckefuck

Titel: Muckefuck
Autoren: Georg Lentz
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Die Zierborte hing zerrissen, beide Stiefelspitzen ragten schräg in die Höhe. Ich streifte meine Hausschuhe ab, fuhr in die schmutzigen Rohre, stapfte zum Konsolspiegel im Korridor. Hart schnitten die Schäfte zwischen den Beinen ins Fleisch. Das Menschlein, verdreckt, mit schiefem Mund, lächelte ins Spiegelglas. Seine Waden ertranken im doppelten Lederschlund.
    »Was willst du«, fragte Minnamartha, »mit den altenStiefeln?« Ich wusste es nicht. Ede war gerührt. Seine aktive Dienstzeit, 1905-08, manifestierte sich in den wiedergefundenen Ausrüstungsstücken.
    Schuhputz, makelloser Glanz. Terpentingeruch. Ich wienerte, nahm den Kampf auf gegen Brüchiges und Stumpfes. Die gelbe Lackborte klebte ich an, und meine Einreibbürste zerstörte schwarz glänzende Oberflächen in Blechdosen. U-Bahn-Lyrik hatte zum Kauf der Wichse angereizt. Denn in den Zügen zwischen Hausvogteiplatz und Krumme Lanke schrieben auf Plakaten hoch über den Fahrgastköpfen die Schuhputzhersteller kategorisch vor:
    »Es urbiniert der feine Mann – erst seinen Schuh. Dann zieht er’n an.«
    Urbin benutzten wir, trotz fleißiger Konkurrenz von Erdal, die damals Jungkunden mit blechernen Knackfröschen zu ködern suchten. Bald glänzten beide Stiefelschäfte wie auf Edes Paradebild.
    Aber die Schnäbel? Die hochgerichteten Stiefelspitzen? »Du musst sie walken«, schlug Ede vor. »Mit Lederfett.« Es wurde angeschafft, und auch hier weiß ich noch die Marke, Schmierwachs Fake , hergestellt, wie auf der Pappschachtel zu lesen war, aus Paraffin, Unschlitt, Nigrosin und Terpentinöl. Ich strich es auf Schnäbel und walkte mit schmerzenden Handballen. Ärger gab es wegen der schwarzen Fingernägel, und bald entdeckte Minnamartha, meine Mutter, überall Schmutz. Arbeit am Leder hinterlässt Spuren. Seife hilft da nicht und nicht Bimsstein, auch nicht die harte Wurzelbürste in der Waschküche.
    Ich betrat das Waschhaus der penetranten Waschmittelgerüche wegen überhaupt nur ungern: Es war in einem Schuppen hinter der Wohnlaube untergebracht. Zwar drängte auch dort ein Geheimnis auf Lösung. Denn in den Zementfußboden eingelassen war eine gusseiserne Platte mit derAufschrift: Verschluss gegen Überschwemmung. Doch verdarb der Zusatz bei Hochwasser öffnen jede Chance, das Geheimnis eines Tages zu lüften. Denn zu einer lohnenden Überschwemmung kam es hier nie.
    Dabei wäre Hochwasser jetzt willkommen gewesen. Denn ich besaß geschmierte Riesenstiefel, eine Waffe gegen Flutkatastrophen, die ich ausprobieren wollte.
    Damals zogen die Gewitter von Südosten auf. Tintenblau verdunkelte sich der Himmel hinter den schlanken Gitterfunkmasten der nahen Funkstation, die rot und weiß leuchteten. Ein Sturm wirbelte Blätter und Papier auf, knallte offen stehende Fenster zu, warf Wassertonnen und Gartenstühle um. Dann erst donnerte und blitzte es. Erste Tropfen klatschten in den Staub, Vorboten einer Flut, die dann fünf Viertelstunden lang herabstürzte. Schließlich konstatierte Ede (oder meine Mutter): »Hinten wird es schon hell.« Ich gewöhnte mir an, ihnen mit diesem Satz zuvorzukommen und spähte deshalb in Richtung der Funktürme, um vor Ede und Minnamartha den ersten hellen Fleck in den Wolken zu entdecken. Jedenfalls kündigte sich mit der Aufhellung im Südosten das Ende des Gewitters an, falls es uns nicht einen Streich spielte und sich von Nordwesten, wohin es gezogen war, noch einmal zurückwälzte.
    Hörte es zu regnen auf, so wusste ich, dass sich draußen auf der Sandstraße eine riesige Lache gebildet hatte.
    Die Stiefel! Noch während die letzten Bäche vom Pappdach vor den Fenstern niederrannen, legte ich die blanken Rohre an. Wie mit Siebenmeilenstiefeln schritt ich durch den neu erstandenen Binnensee.
    Ich schritt.Denn andere Fortbewegungsarten erlaubten Edes Botten nicht. Sie schnitten oben ein. Manchmal dachte ich, sie würden mich mitten auseinanderreißen, wie Rumpelstilzchen. Größere Wogen stampfend zu verursachen, schien mir jedoch ein erstrebenswertes Ziel. Deshalb rief ich Gustav, meinen Freund. Er war ein Jahr älter. Besaß längere Beine. »Gustaav?«
    Gustav kam, wie im Hochsommer bei ihm üblich, splitternackt, mit kahl geschorenem Schädel. Er legte Edes Kavalleriestiefel an, weiße Schenkel endeten in blankschwarzem Leder. Und auf mein Kommando marschierte Gustav mit geschlossenen Augen im Stechschritt durch das Wasser.
    Es gab Wellen! Fontänen. Spritzer. Eine Wasserhose schien sich über die Lache zu bewegen,
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