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Muckefuck

Muckefuck

Titel: Muckefuck
Autoren: Georg Lentz
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in der Gustav unsichtbar stampfte, williges Opfer fast selbstloser Stiefelfreuden in Wirbeln und Kaskaden. Gustav erreichte das andere Ufer, nun wieder heller Körper mit schwarzen Enden. Das Wasser rann an ihm herunter.
    »Her damit!«, befahl ich, hier wagte ich, herrisch zu sein. Ich zog Gustav die Stiefel aus, legte sie selbst wieder an. Setzte dann mein gravitätisches Schreiten durch die Lache fort. Dem Nackten am Strand schenkte ich keine Beachtung mehr. Im Wasser schritt ich, vorschulaltrig, fast analphabetisch (bis auf die Fähigkeit, Gullyinschriften zu entziffern). Ich, Karl, Laubenkarl. Sieger. Besitzer der Stiefel. Selten dauerte der nasse Spaß länger als eine Stunde.
    Ich hatte das Zeitmaß im Kopf. Minnamartha nämlich besaß einen Küchenwecker, eine etwas dicker geratene Taschenuhr, auf der man bis zu einer Stunde beliebige Zeitabschnitte einstellen konnte. Nach Ablauf dieses Zeitabschnittes klingelte es. Solche Uhren gab es damals noch gar nicht im alten Europa, Tante Mieze, nach den Vereinigten Staaten verheiratet, hatte sie einst mitgebracht, währendihres Besuches. Aus Philadelphia, hergestellt von M. Wilson, watchmaker.
    Mithilfe solcher Uhren kann man Eier genau dreieinhalb Minuten kochen. Oder, wenn man die Uhr nach Ablauf einer Stunde – länger ging sie ja nicht – wieder aufzog, und neu auf dreißig Minuten einstellte, einen Schweinsbraten neunzig Minuten lang im Rohr schmoren lassen. Minnamartha, damals einzige Besitzerin so eines Apparates, hatte sich angewöhnt, den größten Teil ihres Tageslaufs in Eieruhrabschnitte zu zerlegen, in kleinere oder größere, willkürlich für ihre Familienmitglieder, für sie selbst aber nach einem anscheinend festen System.
    »Ich will mal eben«, sagte sie, »noch ein Stündchen ruhen. Ach, was bin ich heute wieder müde.« Knarz, zog sie die Uhr auf, stellte sechzig Minuten ein, legte sich auf die Chaiselongue. Präzise nach einer Stunde klingelte es, und je nach gesättigtem oder ungesättigtem Schlafbedürfnis wälzte meine Mutter sich von ihrem Lager oder – ratsch -verlängerte ihre Siesta um einen weiteren, der Eieruhrskala angemessenen Zeitabschnitt.
    Wenn Minnamartha herumging, tickte sie. Denn die Philadelphia-Uhr begleitete sie in der Schürzentasche. Sie tickte, und gelegentlich klingelte es, wo sie ging, saß oder lag. Es klingelte bei uns auf dem Klo, Nachbarn beugten sich erstaunt nach links und rechts über die Zäune, weil sie wissen wollten, weshalb in Edes Garten zwischen den Rabatten Läutwerke rasselten, des Milchmanns Pferd ging durch, Hunde zwängten sich bellend durchs Gitter des Gartentores. (Bis Ede Kaninchendraht zog.)
    Minnamartha klingelte. Oder tickte wenigstens.
    Erst gegen neun Uhr abends ließ sie das Werk endgültig für den jeweiligen Tag ablaufen, im Sommer manchmal noch später.
    Ein Jahr später erlöste mich die gesetzliche Schulpflicht aus meinem Leben zwischen kavalleristischen Andenken und Eieruhr. Ein Foto zeigt mich gerüstet für den ersten Schulweg an einem kalten Apriltag: Schwarz verhüllt eine übergroße Baskenmütze meine Ohren, die wir uns sonst an so einem Raureifmorgen gerötet vorzustellen hätten. Mein Mantel mit Fischgrätmuster stammte aus der bewährten Kollektion von Brenninkmeyer formtreu. Auch dieses Kleidungsstück war selbstverständlich etwas zu groß gekauft, auf Zuwachs.
    Mein Lächeln – das Bild beweist es – blieb verkniffen. Auch in der neuen Umgebung übrigens, die Kontakte vermittelte mit interessanten Schulkameraden, abenteuerlich gekleideten Knaben vornehmlich aus unserer Kolonie, vom Lehrer witzig Tausendschönchen genannt. Ich war ein Tausendschönchen, trotz Brenninkmeyer formtreu.
    Die anderen Tausendschönchen, jene Buben, die am Sparhaarschnitt Glatze mit Vorgarten zu erkennen waren – Hinterkopf kahl, vorn spärliche Ponys – vermittelten mir Lebensweisheiten. Harald Buseberg war einer von ihnen.
    Haralds hellblaue, fast weiß bewimperte Augen zwinkerten unterm Blondpony. Es handelte sich um einen nervösen Tick. Seine Hände schwitzten. Legte er sie flach auf das schwarz lackierte Schulpult, so hinterließen sie feuchte, sich langsam verflüchtigende Spuren, sobald er sie von der Tischplatte löste. Ich vermied es, ihm die Hand zu geben. Dennoch ergaben sich zwischen Harald Buseberg und mir bald nähere Beziehungen, die hinausgingen über die üblichen Kontakte zwischen Mitschülern in der dreißig Köpfe zählenden Volksschulklasse. Denn bereits am neunten
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