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Muckefuck

Muckefuck

Titel: Muckefuck
Autoren: Georg Lentz
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mit, bis der Zug in der amerikanischen Zone einlief. Dort schmuggelte er sich in ein Lager von Displaced Persons, erhielt falsche Papiere, und schrieb schließlich an seine Mutter eine Karte aus Paris: »Bin gut angekommen. O.«
    »Wer hätte das gedacht«, war Minnamarthas Kommentar. Mehr sagte sie nicht dazu.
    In den nächsten Monaten verfiel Minnamartha immer mehr. Tagelang blieb sie apathisch im Bett liegen. Sie magerte ab, wenigstens für ihre Verhältnisse. Unser Leben verlief im stumpfsinnigen Gleichmaß. Schließlich hatten die Laubenbewohner wieder etwas zu gaffen. Ein Rotkreuzwagen holte Minnamartha ab. Bald fand sie sich in einem Sanatorium in der Nähe wieder, wo sie dahindämmerte. Sie war nicht verrückt, auch nicht eigentlich krank. Aber der Wille zum Leben fehlte ihr. Ich besuchte sie jeden Sonntag. Sie sprach von Ede. Immer wieder, wie sie zur der Stelle gegangen war, wo er umgekommen sein sollte. »Nichts«, sagte Minnamartha. »Stell dir vor. Einfach nichts. Ich habe nichts mehr von ihm gefunden.«
    Ich war allein in der Laube.
    Im Juni, der auf diese Ereignisse folgte, bekamen wir neues Geld. Währungsreform. Wenig Geld. Und als wir dachten, wir könnten etwas kaufen, fing die Blockade an. Kein Lastwagen, kein Güterzug, kein Schiff erreichte die Stadt mehr. Wieder begann der Hunger. Die Amerikaner organisierten eine Luftbrücke. Rosinenbomber flogen die notwendigsten Lebensmittel ein, dann, als der Winter kam, sogar säckeweise Kohlen. Strom gab es nur ein paar Stunden am Tag.
    Ich begleitete Gigi jetzt oft auf das Feld. Unsere Spaziergänge hatten einen praktischen Zweck: Entlang den toten Gleisen der ehemaligen Lehrter Bahn wuchsen Wiesenchampignons. Aus ihnen ließ sich eine Soße bereiten, mit der wir den Brei aus Pom, amerikanischem Trockenkartoffelpulver, aufbesserten. Mehr zu essen hatten wir kaum. Und Gigi wurde sehr dünn.
    Wir drei waren jetzt unzertrennlich. Gigi, Friedrich und ich. Viel mehr junge Leute gab es auch nicht mehr in der Kolonie Tausendschön. Die alten blieben unter sich, Buseberg, Puvogel. Manchmal tauchte Siegfried auf, gezähmt jetzt. Auch bei Fanselows – es war das einzige Haus, in das wir in der Siedlung gingen – sah es traurig aus. Gustavchen konnte keine Lebensmittel mehr bringen, denn mitdem Überfluss bei den Amis war es vorbei. Agathes Neger war in die Staaten zurückgegangen, einen Nachfolger gab es nicht. Auch die Geschwister Fanselow nagten am Hungertuch, Gustavchen noch am wenigsten, weil er immerhin die Reste in seiner Küche aufessen konnte, wenn er von den normalen Portionen nicht satt wurde.
    Mathilde kam manchmal. Ihre Brüste baumelten. Sie war immer noch gut mit Zigaretten versehen, aber auch dafür bekam man nichts mehr. Mathilde sprach Neudeutsch , wie Friedrich es nannte. Das heißt, die Hälfte von Mathildes Monologen bestand aus englischen Brocken. »Da habe ich beim Quartermaster gecheckt, ob ich vielleicht einen neuen Job bekommen kann, but they were complete. So bleibe ich lieber bei den Bossen von A1 A1, you understand?«
    We understood, wir verstanden das.
    Allmählich dehnten Gigi und ich unsere Pilzsammeispaziergänge immer weiter aus. Wir drangen auf dem alten Königsweg vor, durch den von Bomben verwundeten Wald, bis zu einem hohen Stacheldrahtzaun. Hier war die Stadt zu Ende. Begann, was die Leute dieser Stadt russische Zone nannten, offiziell Sowjetische Besatzungszone , von hier an war für die Stadtbewohner verbotenes Gelände.
    Niemand verirrte sich dorthin, außer uns. Es war einsam, nicht einmal Militärstreifen waren zu sehen. Russische Posten saßen irgendwo auf Beobachtungstürmen, unsichtbar für uns.
    Tief im Wald verborgen war ein amerikanisches Munitionslager, von Stacheldraht umgeben auch dies. Hier hatten wir einen Platz mit trockenem Gras entdeckt, und oft saßen wir da und sprachen miteinander.
    Einmal redeten wir bis in die Nacht.
    Gigi lehnte sich zurück, auf beide Ellbogen gestützt, den Kopf neben dem Stacheldraht. »Komm«, sagte sie einfach. »Liebe mich.«
    Wir liebten einander auf diesem trockenen Grasflecken, in der Nacht, und es war für uns beide das erste Mal. Es war ein bisschen Hoffnung auf die Zukunft, und viel, so viel Vertrautes. Liebe am Stacheldrahtzaun. Diesmal war es amerikanischer Stacheldraht.
    Über uns flogen in Dreiminutenabständen die Rosinenbomber in die Stadt.
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