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Muckefuck

Muckefuck

Titel: Muckefuck
Autoren: Georg Lentz
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Kolonie. Und so hängen um diese Stunde duftende Rauchfahnen von vielen Holzfeuern über den Dächern. Kühl streicht Morgenluft über meine Schultern. Es gilt, Entscheidungen zu treffen. Soll ich noch einmal, für ein paar Minuten, das dicke Federbett um mich stopfen? Oder wage ich lieber den Sprung auf rutschende Bettvorleger und kühle Dielen?
    An diesem Sonntag war keine Entscheidung nötig. Neun Uhr. Eine Stunde vor dem Abenteuer. Oder vor der Enttäuschung? Wer sechs Jahre alt ist, stellt diese Frage nicht. Das Geheimnis der hölzernen Hand in der Brust, putzte ich die Zähne, zog mich an, frühstückte ein Dreieinhalbminutenei, sehr unbeteiligt, sehr konzentriert. »Was ist heute mit dir?«, fragten selbstverständlich Minnamartha und Ede. Genau so selbstverständlich murmelte ich: »Ooch, nichts.« Und den letzten Bissen sonntäglichen Eigelbs im Mund, schlich ich aus der Laube, Skageraks schnürbaren Folgen entgegen.
    Auf den Zäunen lag noch dünner Raureif. Aber die Sonne schmolz das pelzige Weiß. Es tropfte. Rosenkohlstrünke rochen aus brachen Gärten.
    Der Weg war schmal zwischen den Zäunen, gerade eine Fahrspur breit. Fahrradbesitzende Anlieger hatten die Löcher immer wieder aufgefüllt, mit Schutt, Müll und Kohlenschlacke. Zaun an Zaun lebten sie hier, der Gladiolen züchtende Alfons Reh, Altkommunist und durch einen unheilbaren Kehlkopfschaden (wahrscheinlich Krebs) konstant heiser, – eine Tonart, die seine zahme Dohle Jakob notentreu wiederholte –, und der neunationale Sturmabteilungsführer Gallert. Er, Gallert, elegant braungestiefelt und immer in Breeches und Bluse, hisste bei größeren, aber auch minimaleren neudeutschen Gelegenheiten ein nagelneues Symbolfahnentuch an seinem selbst gezimmerten Fahnenmasten. Vier Meter über Kolonie Tausendschöns Normalnull, vorstädtischer Nivellementshöhe, knatterte die Flagge im Wind. Heute flog Gallerts glühend rote Fahne mit runischen Zeichen, vom Vorfrühlingssturm gebläht. Er fürchtete noch nicht die Konkurrenz rot blühender stark duftender Nelken, wie Alfons Reh sie zwei Monate später gegen die flatternde Textilie anblühen ließ, hunderte und aberhunderte von Nelken auf üppigen Beeten im Laubenvorgarten der Kolonie Tausendschön.
    Die früheste rote Nelke seines Gartens trug Alfons Reh am ersten Mai, dem Tag der Arbeit, im Knopfloch, so lange er es noch durfte.
    Karl schritt wieder. Gefroren lagen die Wagenspuren, empfindliche dünne Schlammkanten, aufgesteilt von rollenden und mahlenden Auto-, Motorrad- oder Fahrradreifen. Pneumuster. Hart geprägt. Davon brachen zentimeterlange Stücke ab unter dem Tritt meiner Sonntagsschuhe.
    Hier links! Hinter Kohlstrunkbeeten lag Laube vierzehn. Eine durch vielfache Anbauten erweiterte Wohnbastion für drei Busebergs. Ich drückte die verblichen blaue Staketenpforte, durchmaß den perspektivisch sich zur Laube verengenden Mittelweg, dessen Kanten durch Hunderte von leeren, mit dem Hals im Boden vergrabene grüne Weinflaschen eingefasst waren.
    Am Ende war Skagerak. War Buseberg, der Vater-Mann, durch Feindgranate amputiert. War Mutter Buseberg, die zwar erwähnt wird, aber kaum eine Rolle spielt. Auffällig sind nur ihre blumendrahtsteifen Locken sowie, das stellt sich heraus, ihre Geduld.
    In der Tür stand Harald mit gesträubten Albinoponys, kniff die Augen, zwinkerte. Alles schien aufs Beste arrangiert, falls es nicht wieder dieser nervöse Tick war. Nein: »Komm!«, sagte Harald, befahl er, und seine sehr kleine Hand lag, augenblicklich an den Umrissen sichtbaren Schweißtau erzeugend, auf dem kupfernen Türknopf.
    Linkes Bein, rechtes Bein hob ich über die hochragende Schwelle, schrägte an Mutter Buseberg vorbei mitten in die Küche. Dort stand Vater Buseberg breitbeinig über einen eisernen Waschschemel mit Schüssel gebeugt, ohne Hemd. Mittelfett und unbehaart strotzte sein Oberkörper, der in Wülsten aus dem Hosenbund stieg. Kaskaden von weißblauem Seifenwasser rannen in die Schüssel zurück, während er neues Wasser mit seiner heilen Hand über die Schultern schleuderte, füllte, schaufelte und baggerte.
    Der Armstumpf schlenkerte unbeteiligt an seiner rechten Seite. Nur manchmal beschrieb er im Raum eine rasche Kreisbahn, wenn Gleichgewichtsprobleme es erforderten.
    Ich trat näher. Buseberg Vater grinste durch Seifenschaum. Sohn Harald, ungewaschen, zwinkerte doppelt schnell, als wollte er sagen: Dies, Kunde Karl, ist nur der Anfang.
    Die Mutter klapperte am Herd mit Töpfen.
    Ich
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