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Ein perfekter Freund

Ein perfekter Freund

Titel: Ein perfekter Freund
Autoren: Martin Suter
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    Seine Hand spürte das Gesicht, aber sein Gesicht spürte die Hand nicht.
    Fabio Rossi ließ sie wieder auf die Bettdecke sinken und versuchte, dorthin zurückzukehren, wo er sich eben noch befunden hatte. An den Ort ohne Gefühle, Geräusche, Gedanken und Gerüche.
    Es war vor allem der Geruch, der ihn davon abhielt, die Augen zu öffnen. Es roch nach Krankenhaus. Er würde noch früh genug erfahren, weshalb er hier war.
    Das nächste, was durch das Dunkel drang, war eine Stimme.
    »Herr Rooossi«, rief sie, wie vom andern Ufer eines Flusses. So weit weg, daß er sie ignorieren konnte, ohne unhöflich zu erscheinen.
    Die Geräusche entfernten sich, aber der Geruch blieb. Er wurde intensiver mit jedem Atemzug. Fabio wollte durch den Mund atmen. Es war ihm, als ob er ihn nur zur Hälfte öffnen könnte. Er betastete ihn. Wieder das gleiche Gefühl: Die Finger spürten die Lippen, aber die Lippen die Finger nicht. Doch der Mund war offen. Er konnte seine Zähne berühren. Auch sie waren gefühllos, jedenfalls die auf der rechten Seite.
    Seine linke Gesichtshälfte fühlte sich normal an. Sein Oberkörper ebenfalls. Er konnte auch die Füße bewegen und spürte die Bettdecke an seinen Zehen. Er tastete seinen Arm ab. Am linken Vorderarm stieß er auf ein Heftpflaster, dann auf einen Infusionsschlauch.
    Fabio spürte Panik hochkommen. Aber noch immer weigerte er sich, die Augen zu öffnen. Zuerst mußte er sich erinnern, weshalb er im Krankenhaus lag.
    Er befühlte seinen Kopf. Die Haare auf der fremden Hälfte fühlten sich seltsam an. Wie eine Mütze. Ein Verband? Auch auf der linken Seite stimmte etwas nicht. Am Hinterkopf klebte ein Pflaster über einer schmerzenden Stelle. Hatte man ihn am Kopf operiert?
    Hatte man ihm einen Tumor entfernt? Und mit ihm die Erinnerung daran, daß er einen gehabt hatte?
    Er riß die Augen auf. Der Raum war abgedunkelt. Er konnte eine Infusionsflasche erkennen, die neben dem Bett an einem verchromten Ständer hing. An der Wand stand ein Tisch mit einem Blumenstrauß, darüber ein Kruzifix. Über seinem Kopf hing ein Haltegriff. Ein Kabel wand sich darum mit einer Klingel, auf die er jetzt panisch drückte.
    Nach einer Ewigkeit wurde die Tür geöffnet. Eine Gestalt zeichnete sich im Neonlicht des Ganges ab, näherte sich, knipste eine Nachttischlampe an.
    »Ja, Herr Rossi?«
    Die Kissen und das schräg gestellte Kopfteil zwangen Fabio in eine halb sitzende Position. Die dünne Frau an seinem hohen Bettrand war fast auf Augenhöhe. Sie trug eine lose blaue Baumwollbluse über einer Hose aus dem gleichen Material. Und ein Namensschild, das Fabios Augen noch nicht entziffern konnten. Sie fühlte seinen Puls und fragte, ohne ihre Uhr aus den Augen zu lassen: »Wo sind Sie?«
    »Das wollte ich Sie fragen.«
    »Keine Ahnung?«
    Fabio schüttelte vorsichtig den Kopf. Die Frau ließ sein Handgelenk los, nahm das Krankenblatt vom Bettgestell und notierte etwas. »Sie sind in der Neurochirurgie der Uniklinik.«
    »Weshalb?«
    »Sie haben eine Kopfverletzung.« Sie überprüfte die Infusionsflasche.
    »Was für eine?«
    »Ein Schädel-Hirn-Trauma. Sie haben einen Schlag auf den Kopf erhalten.«
    »Wie das?«
    Sie lächelte: »Das wollte ich Sie fragen.«
    Fabio schloß die Augen. »Seit wann bin ich hier?«
    »Seit fünf Tagen.«
    Fabio schlug die Augen auf. »Ich war fünf Tage im Koma?«
    »Nein, Sie sind seit drei Tagen wach.«
    »Ich erinnere mich nicht.«
    »Das hängt mit Ihrer Kopfverletzung zusammen.«
    »Ist sie so schlimm?«
    »Es geht. Kein Schädelbruch und keine Blutung.«
    »Und der Verband?«
    »Auf der Intensivstation hatte man Ihnen eine Hirndrucksonde eingesetzt.«
    »Weshalb?«
    »Man hatte im Computertomogramm eine Hirnprellung festgestellt, und der Arzt entschied, Sie in Narkose zu behalten und den Hirndruck zu überwachen. Wenn er gestiegen wäre, hätte das geheißen, daß das Hirn anschwillt oder eine Blutung auftritt.«
    »Was passiert dann?«
    »Es ist nicht angeschwollen.«
    »Ich war in einem künstlichen Koma?«
    »In einer Langzeitnarkose. Zwei Tage.«
    Fabio fielen die Augen zu. »Wo ist meine Freundin?«
    »Ich nehme an, zu Hause. Es ist kurz nach Mitternacht.«
    »Ist sie schon lange gegangen?«
    »Ich weiß nicht. Ich bin die Nachtschwester«, antwortete die Stimme. Jetzt wieder von jenseits des Flusses.
    Norina wusch seinen Bauch mit einem weichen Lappen. Er spürte ihre leichte Hand und die Wärme des Lappens. Er lag mit leicht gespreizten Beinen da und
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