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Ein perfekter Freund

Ein perfekter Freund

Titel: Ein perfekter Freund
Autoren: Martin Suter
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Mädchenschrift. Die Notiz war unterschrieben mit drei Kreuzen und Marlen, einer Telefonnummer und dem Zusatz: Den ganzen Tag! Daneben lag Fabios Handy.
    Fabio wählte Norinas Nummer. Ihr Beantworter meldete sich. Er könne eine Nachricht hinterlassen oder ein Fax schicken oder ihr Handy anrufen. Er sagte: »Norina, ich wurde aus dem Spital entlassen. Ich muß mich in meinem Leben wieder zurechtfinden, und dazu muß ich mit dir reden.«
    Auf ihrem Handy hinterließ er die gleiche Nachricht.
    Norina arbeitete als freie Produktionsassistentin für verschiedene Filmproduktionen. Fabio versuchte die gängigsten. Bei keiner war sie momentan beschäftigt.
    Er ging unter die Dusche und putzte sich die Zähne.
    Dann rasierte er sich sorgfältig. Es kam vor, daß er sich zweimal am Tag rasierte. Eine kleine Macke - sein Bart wuchs schwarz, und Fabio bildete sich ein, daß dadurch sein rotes Haar unnatürlich wirke. Er wollte nicht, daß die Leute glaubten, er färbe sich die Haare.
    Er zog eine Baumwollhose an und ein weißes, kurzärmeliges Hemd. Es sah nach einem weiteren heißen Tag aus. Einen Moment dachte er daran, Lucas Jäger anzurufen. Vielleicht wußte der, wo er Norina erreichen konnte. Aber dann fiel ihm ein, daß Montag war. Er würde mit seinem Anruf mitten in die Redaktionskonferenz platzen.
    Marlen hatte die Espressomaschine eingeschaltet gelassen. Er studierte die Knöpfe und Schalter und entschloß sich, unterwegs einen Kaffee zu trinken.
    Er wußte auch nicht, wie er von hier zur Steinhofstraße kam, und bestellte ein Taxi.
    Vor dem Haus schob ein Mann in Shorts und Fußballtrikot einen leeren Müllcontainer auf Rädern in die Einfahrt. Als er Fabio sah, rief er: »Causio, Rossi, Bettega!«
    »Tardelli!« antwortete Fabio.
    »Benetti, Zaccarelli!« fuhr der andere fort.
    »Gentile, Cuccureddu, Scirea, Cabrini!« antwortete Fabio. Und beide gleichzeitig: »Zoff!«
    Der Mann kam auf Fabio zu und begrüßte ihn auf italienisch.
    »Und die sagen, du hättest Gedächtnisprobleme«, lachte er.
    Fabio lachte mit und stieg in sein Taxi. Als es losfuhr, winkte ihm der Fremde zu. Fabio winkte zurück.
    Fabio war bei der Fußball-WM 1978 zehn Jahre alt gewesen. Sein Vater nahm ihn zu allen wichtigen Spielen mit in die Sonne, das Stammlokal der Italiener des Quartiers. Im Saal war während der Weltmeisterschaften ein Fernseher aufgestellt.
    Am 21. Juni 1978 spielten die Italiener um den Gruppensieg. Sie waren die haushohen Favoriten. Ein Unentschieden gegen Holland hätte ihnen gereicht, um das Endspiel zu erreichen. In der 19. Minute schien die Sache entschieden: Brandts schoß ein Eigentor und verletzte Torhüter Schrijvers so unglücklich, daß dieser gegen Jongbloed ausgewechselt werden mußte. Aber die Holländer gaben nicht auf. In der 49. Minute glich Brandts aus, in der 74. schoß Hahn das zwei zu eins. Von da an wurden die Italiener vorgeführt. Es wurde still im Saal der Sonne.
    Die Mannschaftsaufstellung der Italiener, die für diese Schmach verantwortlich war, erhielt einen Ehrenplatz im Schimpfwort-Vokabular von Fabios Vater. »Causio-Rossi-Bettega-Tardelli-Benetti-Zaccarelli-Gentile-Cuccureddu-Scirea-Cabrini-Zoff!« Keiner konnte sie so rasch und verächtlich ausspucken wie Dario Rossi. Außer vielleicht sein Sohn Fabio. Jahrelang blieb sie seine bevorzugte Haßtirade.
    Aber Fabio besaß auch eine Hymne: »Conti-Rossi-Graziani - Altobelli-Causio-Oriali-Tardelli-Cabrini-Collovati-Scirea - Gentile-Bergomi - Zoff!« Seine Ode an die Männer, die am u. Juni 1982 das Endspiel gegen Deutschland gewonnen und Fabio Rossis Leben verändert hatten.
    Die Zeiten, als die Italiener im Land als Bürger zweiter Klasse betrachtet wurden, waren zwar schon damals vorbei. Sie wurden akzeptiert und einigermaßen gleich behandelt.
    Aber mit dem Sieg über Deutschland, den fußballerischen Erbfeind ihres Gastlandes, hatten die italienischen Gastarbeiter die Herzen ihrer Gastgeber erobert. Von diesem Ta g an war es schick, Italiener zu sein.
    Fabio war ein angepaßter Vierzehnjähriger voller Minderwertigkeitskomplexe. Der plötzliche Italienboom gab seinem Selbstbewußtsein gewaltigen Auftrieb. Er entdeckte seine Italianità und zelebrierte sie zusammen mit seinen Landsleuten an lauen Sommerabenden auf öffentlichen Plätzen, die über Nacht zu Italo-Treffs geworden waren. Er kleidete sich italienisch, sprach italienisch und benahm sich italienisch. Wie es sich gehörte für den Namensvetter des WM- Torschützenkönigs Paolo
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