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Ein perfekter Freund

Ein perfekter Freund

Titel: Ein perfekter Freund
Autoren: Martin Suter
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läßt sich streiten.«
    Das Fenster stand weit offen, der ockerfarbene Sonnenstore war zu drei Vierteln heruntergelassen, durch die schmale Öffnung drang die Luft eines schwülen Spätnachmittags. Fabio Rossi starrte auf die Türklinke. Sobald sie sich senkte, würde er sich schlafend stellen.
    Er hatte seine Mutter gedrängt, nach Urbino zurückzufahren. Sie hatte seinem Drängen rasch und dankbar nachgegeben. Wenn also jetzt, zu Beginn der Besuchszeit, jemand kam, war es mit größter Wahrscheinlichkeit Marlen. Sie kam regelmäßig.
    Am Anfang hatte er mit ihr noch Konversation gepflegt, wie mit einer Sesselliftbekanntschaft. Er wußte, daß sie einen jüngeren Bruder und eine ältere Schwester hatte, daß sie Dancehall-Reggae liebte und daß sie Assistentin in der Presseabteilung von LEMIEUX war, einem internationalen Nahrungsmittelkonzern.
    In dieser Eigenschaft mußte er sie wohl kennengelernt haben. Sie danach zu fragen, hatte er nicht übers Herz gebracht. Sie schien darunter zu leiden, daß er sich nicht an sie erinnerte.
    Er hatte begonnen, sich während ihrer Besuche schlafend zu stellen. Sie saß dann neben seinem Bett, streichelte seine gefühllose Wange und roch gut.
    Die Türklinke senkte sich langsam. Fabio schloß die Augen. Er spürte, wie die stehende Luft im Zimmer leicht in Bewegung geriet. Durch die Wimpern sah er, wie die Tür wieder zugezogen wurde. Sein Besuch hatte gesehen, daß er schlief, und wollte nicht stören. Vielleicht Norina?
    »Ja?« rief Fabio.
    Die Tür ging wieder auf. In der Öffnung erschien der schmale, fast kahlgeschorene Kopf von Lucas Jäger, Kollege und Freund. »Ich dachte, du schläfst.«
    »Pech gehabt«, antwortete Fabio.
    Lucas sah aus, als wäre er lieber nicht hier. Er schloß die Tür hinter sich und legte den SONNTAG-MORGEN vom nächsten Tag auf die Bettdecke. Die Sonntagszeitung, bei der sie beide arbeiteten. »Wie geht's?«
    »Hab's vergessen«, antwortete Fabio. Sein Grinsen fühlte sich schief an, obwohl er sich schon oft vor dem Spiegel überzeugt hatte, daß es das nicht war.
    Lucas grinste auch. Etwas verlegen, wie es Fabio schien.
    »Wann kommst du raus?«
    »Montag oder Dienstag. - Siehst du Norina?«
    Lucas machte eine vage Geste, die wohl ja bedeutete.
    »Wie geht es ihr?«
    »Gut.«
    »Sie ist noch nie gekommen.«
    »Überrascht dich das?«
    Fabio reagierte unwirsch. »Mich überrascht alles, was mit den letzten fünfzig Tagen zu tun hat.«
    »Klar. Tut mir leid.« Beide schwiegen.
    »Was ist genau passiert?« fragte Fabio nach einer Weile.
    »Du bist mit Marlen ins Bett und hast dich von Norina erwischen lassen.«
    »Dabei?«
    »Nicht direkt. Du hast gesagt, du seist auf Reportage, und dabei warst du mit Marlen zusammen.«
    »Und wie hat sie es herausgefunden?«
    Lucas hob die Schultern.
    »Und deswegen hat sie mich rausgeschmissen?«
    »Soviel ich weiß, habt ihr euch versöhnt.«
    »Und?«
    »Dann hast du dich wieder erwischen lassen.« Fabio schüttelte den Kopf. »Ich begreife es nicht.«
    »Also, wenn man Marlen so sieht…«
    »Schon. Aber ich fühle nichts.«
    Lucas lächelte ungläubig. »Nichts? Muß mit dem Schlag auf den Kopf zu tun haben.«
    »Du weißt genau, was ich meine. Sie ist mir fremd.«
    »Das letzte Mal hat es dir gefallen, das zu ändern.«
    Fabio schüttelte den Kopf. »Du kapierst nicht: Ich stehe auf Norina. Was immer es mir möglich gemacht hatte, unsere Beziehung aufs Spiel zu setzen - es ist weg.«
    Beide hingen ihren Gedanken nach.
    »Ist Norina mit jemandem zusammen?« fragte Fabio schließlich.
    Lucas schwieg.
    »Kenne ich ihn?«
    Lucas schien erleichtert, als sich die Tür öffnete und Marlen leise ins Zimmer trat. Sie warf ihm einen fragenden Blick zu. Fabio hatte die Augen geschlossen. Lucas hielt den Finger an die Lippen.
    »Schläft er schon lange?« flüsterte sie.
    »Seit ich hier bin.«

3
    Die ganze Zeit, in der Fabio in der Uniklinik lag, hatte sich Norina nicht blicken lassen.
    Am Tag seiner Entlassung verordnete ihm Doktor Berthod Ruhe, Gedächtnistraining, Physiotherapie und ein Antiepileptikum. Letzteres prophylaktisch, wie er betonte. Normalerweise hätte er ihm auch eine möglichst vertraute familiäre Umgebung empfohlen. Aber da er Fabios Situation kannte, mied er das Thema. Statt dessen erwähnte er Fälle, in denen die Rückkehr in die Situation »vor dem ursächlichen Einflußfaktor« den Betroffenen geholfen hatte, die Erinnerung wiederzufinden.
    Fabio hatte seine paar Sachen in eine schwarze
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