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Enders Schatten

Enders Schatten

Titel: Enders Schatten
Autoren: Orson Scott Card
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1
    Poke
    Â»Sie glauben also, Sie haben jemanden gefunden, und deshalb wird mein Programm plötzlich abgeschossen?«
    Â»Das hat nichts mit dem Jungen zu tun, den Graff gefunden hat, sondern mit der schlechten Qualität derer, die Sie finden.«
    Â»Wir wussten, dass es ein Wagnis war. Aber die Kinder, mit denen ich arbeite, kämpfen jeden Tag um ihr Überleben.«
    Â»Ihre Kinder sind so unterernährt, dass sie schon unter ernsthaftem geistigem Verfall leiden, bevor Sie auch nur anfangen, sie zu prüfen. Die meisten haben keine normalen zwischenmenschlichen Beziehungen entwickelt und sind so gestört, dass kein Tag vergeht, an dem sie nicht etwas stehlen, ramponieren oder zerstören.«
    Â»Aber auch sie haben Potenzial, wie alle Kinder.«
    Â»Das ist genau die Art von Sentimentalität, die Ihr gesamtes Projekt in den Augen der IF diskreditiert.«
    Poke hielt ständig die Augen offen. Auch die jüngeren Kinder sollten Wache halten, und eigentlich waren sie recht aufmerksam, aber manchmal entging ihnen einfach etwas, was ihnen nicht entgehen sollte, und am Ende musste Poke sich doch auf sich selbst verlassen, wenn es darum ging, Gefahren zu erkennen.
    Es gab viele Gefahren, nach denen man Ausschau halten musste. Zum Beispiel Polizisten. Sie ließen sich nicht oft sehen, aber wenn sie auftauchten, schienen sie vor allem die Kinder von der Straße schaffen zu wollen. Sie schlugen mit ihren Magnetpeitschen auf sie ein, brachten selbst den Kleinsten grausam brennende Striemen bei und bezeichneten sie in ihren Strafpredigten als Gesocks, diebisches Gesindel und eine Pest, die die schöne Stadt Rotterdam heimgesucht habe. Es war Pokes Aufgabe, sofort zu bemerken, wenn Unruhe in der Ferne darauf schließen ließ, dass die Polizei eine Razzia veranstaltete. Dann stieß sie den Alarmpfiff aus, und die Kleinen eilten in ihre Verstecke, bis die Gefahr vorüber war.
    Aber Polizisten kamen nicht so oft vorbei. Die wirkliche Gefahr war viel unmittelbarer: größere Kinder. Poke war mit neun Jahren die Matriarchin ihrer kleinen Bande (nicht, dass einer von ihnen sicher gewusst hätte, dass sie ein Mädchen war), aber das half nichts gegen die elf-, zwölf- und dreizehnjährigen Jungen und Mädchen, die kleinere Straßenkinder schikanierten. Die erwachsenen Bettler, Diebe und Huren achteten nicht auf die kleinen Kinder oder traten sie höchstens aus dem Weg. Aber die älteren Kinder, die ebenfalls getreten wurden, drehten sich dann um und stürzten sich auf die jüngeren. Jedes Mal, wenn Pokes Bande etwas zu essen fand – besonders, wenn es sich um eine verlässliche Abfallquelle oder eine Stelle handelte, wo man leicht eine Münze oder ein wenig Essen bekommen konnte – , mussten sie gut aufpassen und ihre Beute sofort verstecken, denn die älteren Kinder taten nichts lieber, als den kleineren auch noch den winzigsten Rest Essen abzunehmen. Jüngere Kinder zu bestehlen war viel sicherer, als es bei Läden oder Passanten zu versuchen. Und es machte ihnen Spaß, das sah Poke genau. Es gefiel diesen Tyrannen und Schlägern, wie die kleinen Kinder sich duckten und gehorchten, wie sie wimmerten und den Schlägern gaben, was immer sie verlangten.
    Als der dünne kleine Zweijährige sich also auf der anderen Straßenseite oben auf eine Mülltonne hockte, bemerkte Poke ihn sofort. Der Junge sah hungrig aus. Nein, er war am Verhungern. Dünne Arme und Beine, lächerlich groß erscheinende Gelenke, ein aufgeblähter Bauch. Und wenn der Hunger ihn nicht bald umbrachte, würde der Herbst es tun, denn seine Kleidung war viel zu dünn, und er hatte zu wenig an.
    Normalerweise hätte Poke einem so kleinen Kind nur flüchtig ihre Aufmerksamkeit geschenkt. Aber der hier hatte wache Augen. Er sah sich voller Intelligenz um. Er hatte nichts von der Starrheit der lebenden Toten, die nicht mehr nach Essen suchten und nicht einmal mehr einen bequemen Platz finden wollten, an dem sie ein letztes Mal die stinkende Luft Rotterdams einatmen konnten. Der Tod war für sie keine große Veränderung. Jeder wusste, dass Rotterdam vielleicht nicht die Hauptstadt, aber zweifellos der Vorort der Hölle war. Der einzige Unterschied zwischen Rotterdam und dem Tod bestand darin, dass in Rotterdam die Verdammnis nicht ewig dauerte.
    Dieser kleine Junge – was machte er da? Er stöberte nicht nach Nahrung. Er beobachtete nicht die
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