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Ein perfekter Freund

Ein perfekter Freund

Titel: Ein perfekter Freund
Autoren: Martin Suter
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und ist meine Freundin. Seit fünf Wochen.
    Tagsüber ging es. Frühstücken, Waschen, Physiotherapie, Tomographie, Elektroenzephalographie. Man testete seine Hirnfunktionen (»Wenn ich einen Finger hochhalte, halten Sie zwei hoch, wenn ich zwei hochhalte, halten Sie einen hoch«); man hielt süße und salzige Wattestäbchen auf seine Zunge, um seine Geschmacksnerven zu testen; man prüfte die Empfindlichkeit seines Trigeminusnervs mit Nadelstichen; man testete seine Reflexe mit einem Gummihämmerchen; er mußte heiß, kalt, spitz und stumpf unterscheiden; er mußte sich Wörter merken und sie in umgekehrter Reihenfolge wiederholen; man fragte ihn aus über sein Leben, seinen Beruf, seinen Unfall; man wollte von ihm die Namen der letzten drei amerikanischen Präsidenten wissen und das heutige Datum und den Namen seines Chefredakteurs und wie er die letzten Sommerferien verbracht hatte.
    Fabio beteiligte sich mit Eifer an den Untersuchungen. Er wollte wissen, wie es um ihn stand. Er wollte wissen, was mit ihm passiert war. Er wollte wissen, was er nicht mehr wußte.
    Wenn er nicht von diagnostischen, therapeutischen oder pflegerischen Maßnahmen in Anspruch genommen wurde, döste er, las ein wenig (was ihn sehr anstrengte) oder empfing kurze Besuche.
    Aber sobald die Tagesschwester das frühe Abendessen abgeräumt hatte und den Rolladen vor dem noch he llen Sommerhimmel herunterließ, stellte sich die Panik ein.
    Er kannte das Gefühl von früher. Er hatte auf der Hochzeit seiner Mutter vor drei Jahren in Urbino so viele Grappas getrunken, daß er sich an nichts mehr erinnern konnte. Er wußte nicht, weshalb ihm das passiert war. Seine Mutter war erst sechsundvierzig, als sein Vater mit fast siebzig starb. Sie hatte drei Jahre später einen Jugendfreund geheiratet, wogegen er nichts einzuwenden hatte. Daß es hieß, sie habe schon zu Vaters Lebzeiten etwas mit Aldo gehabt, konnte er ihr nicht verdenken. Sie war eine schöne Frau, nicht dafür geschaffen, ihre Abende mit einem kränkelnden, alten Mann zu verbringen, der die Mannschaftsaufstellungen der italienischen Nationalelf der letzten vierzig Jahre herunterbeten konnte. Und dies auch regelmäßig tat.
    Trotzdem hatte Fabio sich auf dieser Hochzeit wie ein verschmähter Liebhaber vorsätzlich, systematisch und demonstrativ betrunken. Er war nackt auf der Matratze des Gästebetts seiner Großmutter aufgewacht, neben sich ein Bündel aus seinem Bettzeug, seinen Kleidern und seinem Mageninhalt. Die Großmutter wohnte in Saludecio, auf halbem Weg zwischen Urbino und Rimini. Er hatte keine Ahnung, wie er dorthin gekommen war.
    Die folgenden vierundzwanzig Stunden war er damit beschäftigt, seinen Kater zu verkraften. Und die Berichte anderer Gäste über Einzelheiten seines Exzesses. Die Panik kam erst, als er feststellte, daß etwa vierzehn Stunden seines Lebens ausgelöscht waren. Sosehr er sich anstrengte, er konnte sich nicht erinnern. Er konnte sie rekonstruieren, er konnte sie lernen, er konnte sie recherchieren wie eine Geschichte, die ein anderer erlebt hat. Aber seine eigene Version, seine persönliche Erfahrung war unwiederbringlich weg. Wie früher der Milchzahn auf dem Fenstersims am nächsten Morgen.
    Diese Erfahrung hatte Fabio so erschreckt, daß er danach zwei Jahre lang überhaupt keinen Alkohol mehr angerührt hatte und bis heute nie mehr betrunken gewesen war.
    Diesmal waren fünfzig Tage weg.
    Seine letzte Erinnerung - frisch und lebhaft wie von gestern - war ein Interview mit einem Lokomotivführer. Fabio war seit einiger Zeit an einer Reportage über Lokomotivführer, denen sich Selbstmörder vor die Lok geworfen hatten. Er wollte wissen, wie sie sich fühlten, wie sie das Erlebnis verarbeiteten, wie sie psychologisch betreut wurden. Es war eine dieser Geschichten, die auf der Redaktionskonferenz besser klangen, als sie im Lauf der Recherche wurden. Alle erzählten das gleiche, waren gleich betroffen, gleich erschüttert, hatten die gleichen Sätze parat wie der Bahnpsychologe, der sie betreute. Bis Fabio Erwin Stoll traf, einen fünfundzwanzigjährigen Lokführer im zweiten Dienstjahr.
    Stoll hatte eine Wut. Er nahm es dem Selbstmörder - einem von seiner Frau verlassenen, knapp vierzigjährigen Familienvater - persönlich übel, daß er sich vor seine Lok geworfen hatte. »Was habe ich dem Arschloch getan, daß er sich vor meine Lok wirft? Soll er sich doch aufhängen oder von einer Brücke stürzen oder Tabletten fressen! Wissen Sie, was ein
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